Vergebung ist eines der zentralsten Themen im christlichen Glauben – und zugleich eines der herausforderndsten. Wir sprechen oft davon, dass wir vergeben sollen, doch wenn wir verletzt wurden, fühlt sich das wie eine unmögliche Aufgabe an. Warum ist Vergebung so schwer? Und wie können wir sie dennoch leben?
In Matthäus 18,21 lesen wir: “Dann kam Petrus zu Jesus und fragte: „Herr, wie oft darf mein Bruder gegen mich sündigen, und ich muss ihm vergeben? Siebenmal?“ „Nein“, antwortete Jesus, „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzig Mal.”
Als Petrus Jesus fragt, wie oft er seinem Bruder vergeben soll, schlägt er siebenmal vor – eine Zahl, die im jüdischen Denken bereits für Vollkommenheit steht. Doch Jesu Antwort sprengt jede Vorstellung von Maß und Begrenzung: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzig Mal.“ Manche Übersetzungen sagen sogar „siebzigmal siebenmal“, was die Zahl auf 490 erhöht – aber das ist nicht der Punkt. Jesus geht es nicht um eine rechnerische Obergrenze, sondern um eine Haltung des Herzens. Vergebung soll kein kalkulierter Akt sein, sondern ein Lebensstil. In einer Welt, die von Gerechtigkeit, Vergeltung und Stolz geprägt ist, ruft Jesus zu einer radikalen Großzügigkeit auf – einer Bereitschaft, immer wieder neu zu vergeben, selbst wenn es uns schwerfällt. Diese Aussage fordert uns heraus, unsere inneren Grenzen zu hinterfragen: Wo ziehe ich eine Linie? Wo sage ich „Jetzt reicht’s“? Jesus sagt: Die Liebe kennt keine Grenze, und die Vergebung auch nicht. Sie ist Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit, die wir selbst empfangen haben – und die wir weitergeben sollen, nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft des Heiligen Geistes.
Was bedeutet das für uns Christen?
Jesu Worte über Vergebung sind keine bloße Empfehlung – sie sind ein zentraler Bestandteil seiner Lehre und damit auch der Nachfolge. Wer Jesus nachfolgt, folgt dem Weg des Kreuzes – einem Weg, der durch Demut, Liebe und Barmherzigkeit geprägt ist. Dieser Weg macht keinen Halt vor der Größe der Schuld, die ein anderer auf sich geladen hat. Er fragt nicht: „Wie schlimm war das?“ oder „Verdient der andere meine Vergebung?“ – sondern er schaut auf das Kreuz, wo Christus selbst die Last aller Schuld getragen hat. Egal, ob der andere Täter oder Versager ist, ob er bereut oder nicht – die Nachfolge Jesu ruft uns dazu auf, unser Herz nicht zu verschließen. Denn Jesus hat auch unsere Sünden getragen – nicht nur die kleinen, sondern auch die tiefen, dunklen, beschämenden. Er hat uns vergeben, obwohl wir es nicht verdient haben. Und genau darin liegt die Kraft der christlichen Vergebung: Sie ist nicht gerecht im menschlichen Sinn, sondern gnädig im göttlichen Sinn. Wer diesen Weg geht, lebt nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Gnade, die am Kreuz offenbar wurde. Und wer diese Gnade empfangen hat, kann sie nicht für sich behalten – er muss sie weitergeben, auch wenn es weh tut. Denn das Kreuz ist nicht nur ein Symbol der Erlösung, sondern auch ein Ruf zur Hingabe.
Vergebung ist dabei kein optionales Extra, sondern ein Prüfstein echter Nachfolge. Denn Jesus hat nicht nur gelehrt zu vergeben – er hat es selbst in der extremsten Form gelebt.
Wer sich Christ nennt, aber aus Stolz, Groll oder Selbstgerechtigkeit nicht bereit ist zu vergeben, widerspricht nicht nur dem Wesen Christi – er stellt sich außerhalb der Nachfolge. Denn ein Herz, das sich weigert zu vergeben, hat das Herz Jesu nicht erkannt.
Jesus hat uns nicht nur gelehrt zu vergeben, sondern er hat es in vollkommener Weise vorgelebt – am Kreuz, mitten im Schmerz, mitten in der Ungerechtigkeit: Jesus sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34). Ein wahrer Jünger Jesu kann nicht an Bitterkeit festhalten und gleichzeitig behaupten, dem nachzufolgen, der selbst für seine Feinde gebetet hat. Die Nachfolge Jesu ist kein Titel, den man sich selbst verleiht – sie ist ein Weg, der sich in der Haltung des Herzens zeigt. Und dieses Herz muss weich sein, demütig, bereit zur Versöhnung. Wer sich weigert zu vergeben, verschließt sich der Gnade, die er selbst empfangen hat – und damit auch dem Ruf Jesu, ihm wirklich nachzufolgen. Stolz ist das Gegenteil von dem, was Jesus vorgelebt hat. Er hat sich erniedrigt, gedemütigt, hingegeben – und gerade darin liegt seine Größe.
Die Realität der Verletzung
Verletzungen hinterlassen Spuren, die oft tiefer reichen, als andere ahnen. Ob durch harte Worte, verratene Vertrauen, verletzende Taten oder schmerzhaftes Schweigen – wenn uns jemand tief verletzt, ist der Schmerz nicht nur emotional, sondern auch geistlich spürbar. Er kann unser Herz verhärten, unser Denken vergiften und unsere Beziehungen belasten. Solche Verletzungen bauen Mauern – nicht nur zwischen uns und dem anderen, sondern oft auch zwischen uns und Gott. Denn wie sollen wir beten, wenn unser Herz voller Groll ist? Wie sollen wir lieben, wenn wir innerlich gefangen sind?
„Ein Bruder, dem Unrecht geschehen ist, ist schwerer zu gewinnen als eine befestigte Stadt“ (Sprüche 18,19). Sinngemäße Formulierung: “Jemand, der verletzt wurde, zieht sich zurück wie hinter dicke Mauern – ihn wieder zu erreichen ist schwerer als eine gut gesicherte Festung.“
Diese Mauern lassen sich nicht mit einem schnellen „Ich vergebe dir“ einreißen. Vergebung ist kein flüchtiges Gefühl, das sich einstellt, wenn der Schmerz nachlässt. Sie ist eine bewusste Entscheidung – oft gegen das eigene Empfinden, gegen den Stolz, gegen das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Und diese Entscheidung kostet etwas: Kraft, Demut, manchmal Tränen. Sie verlangt, dass wir loslassen, obwohl wir festhalten wollen. Dass wir segnen, obwohl wir verletzt wurden. Dass wir vertrauen, obwohl wir enttäuscht wurden. Doch gerade in diesem Prozess liegt eine tiefe geistliche Heilung. Denn Vergebung ist nicht nur ein Geschenk für den anderen – sie ist Befreiung für uns selbst.
Vergebung bedeutet nicht Vergessen
Ein weit verbreiteter Irrtum ist die Vorstellung, dass echte Vergebung bedeutet, alles zu vergessen. Doch das ist weder biblisch noch menschlich realistisch. Erinnerungen an Verletzungen verschwinden nicht einfach – sie sind Teil unserer Geschichte. Vergebung bedeutet nicht, dass die Erinnerung gelöscht wird, sondern dass wir uns entscheiden, den anderen nicht mehr an seiner Schuld festzuhalten. Wir lassen los, was uns bindet – nicht, weil wir vergessen haben, sondern weil wir nicht länger aus der Verletzung leben wollen. Gott selbst zeigt uns dieses Prinzip in vollkommener Weise. In der Heiligen Schrift heißt es, dass er unsere Sünden „nicht mehr gedenkt“ – nicht, weil er sie vergessen hätte, sondern weil er sie uns nicht mehr anrechnet. Er sieht uns durch das Opfer Jesu, nicht durch unsere Fehler. Das ist das Vorbild für unsere Vergebung: Wir erinnern uns vielleicht, aber wir entscheiden uns, nicht mehr aus der Erinnerung zu urteilen. Wir vergeben, weil wir selbst Vergebung empfangen haben – und weil Gnade stärker ist als Groll. „Denn ich will ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“ (Jeremia 31,34)
Diese Worte aus Jeremia 31,34 sind ein kraftvolles Zeugnis von Gottes radikaler Gnade. Sie stehen im Kontext des neuen Bundes, den Gott mit seinem Volk schließen will – ein Bund, der nicht mehr auf äußeren Gesetzestafeln beruht, sondern auf einem inneren Wandel des Herzens. Gottes Vergebung ist hier nicht oberflächlich oder bedingt, sondern tiefgreifend und endgültig. Er sagt nicht, dass er unsere Schuld vergisst, als wäre sie aus seinem Gedächtnis gelöscht, sondern dass er sich bewusst entscheidet, sie nicht mehr gegen uns zu verwenden.
Das ist ein Unterschied von großer Bedeutung: Gott kennt unsere Geschichte, unsere Brüche und unser Versagen – und dennoch begegnet er uns mit einer Liebe, die nicht anklagt, sondern heilt.
Diese göttliche Haltung ist das Fundament wahrer Vergebung: nicht das Auslöschen der Erinnerung, sondern das Aufhören, aus der Schuld heraus zu urteilen. Wenn Gott selbst so mit uns umgeht, sind wir eingeladen, dieses Prinzip auch in unseren Beziehungen zu leben – nicht indem wir vergessen, sondern indem wir loslassen. Vergebung wird so zu einem Akt der Freiheit, der uns aus der Vergangenheit in eine neue Zukunft führt.
Christsein: Wenn Gnade schwerfällt: Die innere Not hinter der Unfähigkeit zu vergeben
Obwohl Vergebung zum Herzstück des christlichen Glaubens gehört, fällt sie vielen Christen schwer – und das ist kein Zeichen mangelnden Glaubens, sondern Ausdruck unserer menschlichen Zerbrechlichkeit. Vergebung ist kein spontaner Reflex, sondern ein oft schmerzhafter innerer Prozess, der durch tiefe Verletzungen, Enttäuschungen und unerfüllte Sehnsucht nach Gerechtigkeit blockiert sein kann. Viele wissen, dass sie vergeben sollten, doch sie ringen damit, weil die Wunden noch bluten, das Vertrauen erschüttert wurde oder die Angst vor erneuter Verletzung lähmt. Erschwerend kommt hinzu, dass in manchen christlichen Kreisen ein verzerrtes Bild von Vergebung vermittelt wird – als müsse man alles vergessen, sich sofort versöhnen oder die Beziehung zwangsläufig wiederherstellen. Doch echte Vergebung bedeutet nicht, sich selbst zu verleugnen oder Missbrauch zu dulden. Sie beginnt mit der Entscheidung, den anderen nicht länger an seiner Schuld festzuhalten – auch wenn die Gefühle noch nicht mitziehen.
Dieser Weg braucht Zeit, Mut zur Wahrheit und oft auch seelsorgerliche Begleitung. Viele Christen tragen Verletzungen, die nie wirklich benannt oder verarbeitet wurden, und so bleibt Vergebung ein theoretisches Ideal, aber innerlich unerreichbar. Doch gerade hier will Gott hineinwirken – nicht mit Zwang, sondern mit heilender Liebe. Er lädt uns ein, unsere Unfähigkeit zu vergeben nicht zu verstecken, sondern ihm hinzuhalten. Denn Vergebung ist letztlich ein Werk seiner Gnade in uns, nicht unsere eigene Leistung.
Und doch: Wer Christus nachfolgt, ist gerufen, diesen Weg zu gehen. Vergebung ist kein optionaler Zusatz, sondern Ausdruck der Liebe, die wir selbst empfangen haben. Sie ist ein geistlicher Akt der Freiheit – nicht für den Täter, sondern für das eigene Herz. Wer vergibt, wird nicht schwächer, sondern freier. Und manchmal beginnt dieser Weg mit dem demütigen Eingeständnis: „Ich kann (noch) nicht vergeben – aber ich will mich auf den Weg machen.“ Denn Nachfolge bedeutet, sich von Gottes Gnade formen zu lassen – auch dort, wo es weh tut.
Vergebung ist kein leichter Weg – aber er führt in die Freiheit, die Christus uns verheißen hat. Sie ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung, die oft gegen den inneren Widerstand getroffen werden muss. Doch wer sich auf diesen Weg einlässt, erfährt, dass Gottes Gnade nicht nur die Schuld des anderen trägt, sondern auch die eigene Wunde heilt. Vergebung ist ein geistlicher Akt, der Himmel und Erde verbindet: Sie öffnet das Herz für den Frieden Gottes und lässt uns selbst zu Werkzeugen seiner Versöhnung werden. Möge der Mut zur Vergebung in uns wachsen – nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft dessen, der uns zuerst vergeben hat. Denn in der Nachfolge Jesu ist Vergebung kein Nebenthema, sondern ein Weg, der mitten durch das Kreuz führt – hin zur Auferstehung des Lebens. Amen.