Lukas 18, 11–14: “Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe. Der Zöllner aber stand weitab und wollte sogar die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.”
Diese eindrückliche Szene aus dem Lukasevangelium stellt zwei Menschen gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten – nicht in ihrer äußeren Erscheinung, sondern in ihrer inneren Haltung vor Gott. Der Pharisäer, stolz auf seine religiösen Leistungen, tritt selbstsicher vor Gott. Der Zöllner hingegen bleibt auf Abstand, voller Reue und Demut. In diesem Gleichnis offenbart Jesus, worauf es Gott wirklich ankommt: nicht auf äußere Frömmigkeit, sondern auf ein zerbrochenes Herz, das seine Abhängigkeit von Gottes Gnade erkennt. Es ist eine Einladung zur Selbstprüfung – und eine Warnung vor geistlichem Hochmut.
Der Pharisäer steht im Tempel. Er betet – aber nicht zu Gott, sondern „bei sich selbst“. Seine Worte sind keine Bitte, keine Anbetung, keine Demut. Es ist ein Monolog der Selbstgerechtigkeit. Er zählt auf, was er alles tut: Er fastet, er gibt den Zehnten, er lebt moralisch korrekt. Und dann kommt der Vergleich: „Ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen… oder wie dieser Zöllner.“ Was hier geschieht, ist keine Gottesbegegnung. Es ist eine religiöse Selbstinszenierung. Der Pharisäer benutzt das Gebet, um sich selbst zu erhöhen. Und genau das ist der Kern der Warnung Jesu: Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden.
Die Falle der geistlichen Überlegenheit: Wie schnell tappen wir in dieselbe Falle. Wir vergleichen uns. Wir messen unseren Glauben an dem der anderen. Wir sagen vielleicht nicht laut: „Ich bin besser“ – aber innerlich denken wir es. „Ich bin bibeltreuer.“ „Ich habe mehr Erkenntnis.“ „Ich lebe konsequenter.“ „Ich mache keine Kompromisse wie andere.“ Doch genau hier beginnt die Gesetzlichkeit. Wenn wir anfangen, unsere geistliche Identität aus Leistung zu ziehen, statt aus Gnade. Wenn wir meinen, Gott sei uns näher, weil wir mehr tun, mehr wissen, mehr verzichten. Dann stehen wir neben dem Pharisäer – und nicht mehr vor dem Kreuz.
Der Zöllner – ein Vorbild der Demut: Ganz anders der Zöllner. Er steht weitab. Er wagt es nicht, zum Himmel zu blicken. Er schlägt sich an die Brust – ein Zeichen tiefer Reue. Und er spricht nur einen Satz: „Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ Kein theologischer Vortrag. Keine Rechtfertigung. Nur ein Ruf nach Gnade. Und Jesus sagt: „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus – im Gegensatz zu jenem.“ Nicht der religiös Aktive, sondern der zerbrochene Sünder wird von Gott angenommen. Nicht der, der alles richtig macht, sondern der, der weiß, dass er falsch liegt.
Können wir noch weiter gehen? Gibt es geistliche Leistungen, die ein noch größeres Gewicht tragen? Ist es möglich, dass es etwas Höheres gibt als das Gute, das wir Menschen einander tun? Etwas, das über Nächstenliebe hinausgeht? Vielleicht: Gott selbst Gutes zu tun – ihn zu ehren, ihn zu verherrlichen? Wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann wird deutlich: Die Ehre Gottes ist das höchste Ziel, das größte Gut, der tiefste Sinn unseres Lebens. Alles, was wir tun – ob im Alltag oder im geistlichen Dienst – soll letztlich auf ihn hinweisen, ihn groß machen, ihn ehren.
Doch was bedeutet das für unsere Vorstellung von geistlicher Leistung? Sind dann die wertvollsten Taten jene, die aus tiefer Frömmigkeit geboren werden? Vollbracht von Menschen, die sich ganz dem Gebet, der Anbetung, dem Dienst am Wort widmen? Menschen, die sich mit den „höheren Dingen“ beschäftigen – mit dem Himmel, mit Gottes Wesen, mit der Ewigkeit – statt mit den alltäglichen Dingen des Lebens? Und wenn das so ist: Kann ein solcher Mensch nicht auch mit einer besonderen Auszeichnung rechnen? Mit einem Ehrenplatz im Himmel? Mit einem besonderen Maß an Anerkennung von Gott?
Doch hier ist Vorsicht geboten. Denn sobald wir anfangen, geistliche Leistungen zu gewichten, geraten wir in Gefahr, das Wesen der Gnade zu übersehen. Die Bibel macht deutlich: Nicht unsere Werke, sondern Gottes Gnade entscheidet. Nicht unsere Frömmigkeit, sondern unser Herz. Nicht unsere Stellung, sondern unsere Demut. Jesus selbst stellt in Lukas 18 den Zöllner über den Pharisäer – obwohl der Pharisäer mehr „geleistet“ hat. Warum? Weil der Zöllner sich selbst erniedrigte. Weil er wusste, dass er nichts vorzuweisen hatte. Weil er Gott um Gnade bat – und nicht um Anerkennung.
Ja, Gott zu ehren ist das Größte, was ein Mensch tun kann. Aber es ist kein Weg zur Selbsterhöhung. Es ist kein geistliches Karrieresystem. Es ist ein Ruf zur Hingabe – und zur Demut. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Und wer sich selbst erniedrigt, den wird Gott erhöhen.
Zur Zeit Jesu gab es unter den Juden eine religiöse Gruppe, die sich besonders durch Eifer und äußerste Konsequenz auszeichnete: die Pharisäer. Sie galten als die Frommen schlechthin – Menschen, die mit Hingabe und Disziplin danach strebten, Gott zu ehren. Der Pharisäer aus dem Gleichnis Jesu ist ein Paradebeispiel für diese Haltung. Er übertraf die religiösen Erwartungen seiner Zeit bei Weitem: Während der durchschnittliche Jude einmal pro Woche fastete, tat er es gleich zweimal. Und beim Zehnten war er nicht nur auf das Einkommen bedacht – nein, selbst das kleinste Kräutersträußchen aus seinem Garten wurde penibel verzehntet. In seinem Gebet verkündete er stolz: „Ich gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Sein Ton erinnert an einen Sportler, der stolz seine Medaillen präsentiert. Er war überzeugt, mit seinen religiösen Leistungen viele andere übertroffen zu haben. Und das ließ er Gott wissen: „Ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen Menschen – Räuber, Betrüger, Ehebrecher – oder auch wie dieser Zöllner.“ Dieser Stolz war nicht nur innerlich spürbar, sondern wurde auch gesellschaftlich belohnt. Die Pharisäer genossen hohes Ansehen. Sie galten als Vorbilder der Frömmigkeit, als Maßstab für geistliche Ernsthaftigkeit. Ihre Strenge und Konsequenz in der Gesetzesauslegung beeindruckte viele – sie wurden bewundert für ihren scheinbar kompromisslosen Einsatz für Gottes Ehre.
Es ist allgemein bekannt: Jesus gehörte nicht zu denen, die die Pharisäer bewunderten. Im Gegenteil – er kritisierte sie scharf, er stellte sie bloß, er warnte vor ihrem Einfluss. Und das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner im Tempel ist eines der deutlichsten Beispiele dafür. Doch die Frage bleibt: Warum eigentlich? Die Pharisäer waren keine oberflächlichen Menschen. Sie strebten nicht nach Ruhm im Sport oder Ansehen in der Kultur. Sie beschäftigten sich nicht mit den irdischen Dingen wie Wissenschaft oder Politik. Nein – sie wollten Gott ehren. Sie wollten für ihn leben, für ihn leisten, für ihn wirken. Eigentlich müsste das doch lobenswert sein. Eigentlich müsste Jesus das gefallen. Und doch spricht Jesus ein vernichtendes Urteil: “Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.”
Nicht gerechtfertigt – ein erschütterndes Urteil: Was bedeutet das? Es bedeutet: Gott erkennt die Leistungen des Pharisäers nicht an. Nicht im Tempel, nicht im Leben, nicht im Gericht. Der Pharisäer wird nicht gerecht gesprochen – sondern schuldig. Kein Ehrenplatz im Himmel. Keine Belohnung für religiöse Disziplin. Keine Seligkeit. Stattdessen: Erniedrigung. Ausschluss. Gericht. Das ist hart. Das ist unbequem. Aber es ist wahr. Und es ist notwendig, dass wir es hören.
Warum dieses Urteil? Weil Gott sich nicht beeindrucken lässt! Es gibt nur einen Grund für dieses Urteil: Wir können Gott nicht mit unseren Leistungen beeindrucken. Im menschlichen Bereich mögen Leistungen zählen. Wir feiern sportliche Erfolge, wissenschaftliche Durchbrüche, kulturelle Meisterwerke. Und auch im geistlichen Bereich freuen wir uns über Dienste, über Opfer, über Hingabe, über unseren scheinbaren Gehorsam und Bibeltreue. Das ist gut und richtig. Aber vor Gott gelten andere Maßstäbe. Vor Gott zählt nicht, was wir tun – sondern wie wir stehen. Nicht unsere Werke – sondern unser Herz. Nicht unsere Frömmigkeit – sondern unsere Demut.
Was viele Christen nicht wahrhaben wollen ist: Die fromme Selbsttäuschung – eine stille Gefahr! Wer meint, durch religiöse Leistungen Anerkennung bei Gott zu finden, der täuscht sich. Wer glaubt, durch Fasten, Spenden, Bibelkenntnis oder Kirchensteuer gerecht zu werden, der irrt. Wer sich selbst erhöht – sei es durch äußere Frömmigkeit oder innere Überlegenheit – der merkt nicht, wie schwach und erbärmlich er in Wahrheit vor seinem Schöpfer dasteht. Denn wahre Heiligkeit ist mehr als das Halten von Geboten. Mehr als zweimal wöchentliches Fasten. Mehr als zehn Prozent vom Einkommen. Wahre Heiligkeit bedeutet: sich in Liebe aufzuopfern – für Gott und für den Nächsten. Ganz. Selbstlos. Ohne Stolz. Ohne Berechnung.
Manche Menschen sagen: Das Christsein sei eine bedrückende Sache. Immer nur Demut, immer nur Selbsterniedrigung vor Gott – und kein Raum für Stolz, keine Anerkennung für das, was man geleistet hat. Das könne doch nicht gesund sein. Wer sich nichts zutraut, wer gering von sich denkt, der verliere sein Selbstwertgefühl und werde womöglich seelisch krank. Und ja – da ist ein Stück Wahrheit drin. Denn ein Mensch, der in sich selbst nichts Gutes mehr sieht, der keine Hoffnung mehr hat, der sich nur noch als Versager empfindet, der kann tatsächlich zerbrechen. Aber genau hier liegt der entscheidende Punkt: Das Evangelium konfrontiert uns zwar mit der Wahrheit über uns selbst – aber es lässt uns nicht in dieser Wahrheit allein zurück.
Die Bibel ist schonungslos ehrlich: Wir sind Sünder. Wir verfehlen Gottes Maßstab. Wir enttäuschen ihn – nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich. Kein psychologisches Konzept, kein positives Denken, keine Selbstoptimierung kann diese Wahrheit aus der Welt schaffen. Gottes Wort hält uns den Spiegel vor – und das Bild, das wir darin sehen, ist nicht schmeichelhaft. Aber das ist nicht das Ende. Denn das Evangelium zeigt uns nicht nur, wer wir sind – sondern auch, wer Gott ist. Und das verändert alles.
Im Gleichnis Jesu steht der Zöllner als Gegenbild zum Pharisäer. Er macht sich keine Illusionen über seine Stellung vor Gott. Er weiß: Auch wenn er im Leben Erfolg hatte, auch wenn er wirtschaftlich etwas erreicht hat – vor Gott steht er mit leeren Händen da. Er nennt sich einen Sünder. Er senkt den Blick. Er schlägt sich an die Brust. Und er spricht nur diesen einen Satz: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ War er verzweifelt? War er seelisch am Ende? Nein. Denn er wusste, wohin mit seiner Not. Er ging zum Tempel. Er suchte Gottes Nähe. Er bat um Gnade. Und genau das ist der Wendepunkt: Nicht die Selbsterkenntnis allein rettet – sondern die Hinwendung zu Gott.
Verzweifelt ist nur, wer keine Hoffnung mehr hat. Der Zöllner hatte Hoffnung. Und wir Christen haben sie auch. Denn wir wissen: Gott hilft. Er hat geholfen – durch Jesus Christus, seinen Sohn. Jesus hat verheißen: „Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Das ist keine Drohung – das ist eine Zusage. Wer erkennt, dass er mit seinen Leistungen bei Gott nicht bestehen kann, und wer ihn um Hilfe bittet, der empfängt die Kraft des Heiligen Geistes. Der darf frohgemut weiterleben. Der darf dem Gerichtstag ohne Angst entgegensehen. Denn Jesus sagt über den Zöllner: „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus.“ Gerechtfertigt – das heißt: angenommen, geliebt, reingewaschen. Nicht wegen eigener Leistung, sondern um des Opfers Jesu willen. Seine Sünden sind vergeben. Da bleibt nichts zurück, was ihm vorgeworfen werden könnte. Und das gilt auch für uns – wenn wir uns wie der Zöllner vor Gott beugen.
Wer sich selbst erhöht, der lebt in einer Illusion. Denn kein Mensch kann sich durch Leistung vor Gott ins rechte Licht setzen. Aber wer sich selbst erniedrigt, wer seine Schuld bekennt, der muss nicht verzweifeln. Im Gegenteil: Er findet Hilfe. Er findet Heil. Er findet Freude – eine Freude, die alle menschliche Anerkennung übersteigt. Es ist die Freude des Evangeliums. Eine kindliche Freude. Denn ein Kind weiß: Ich kann nicht mithalten mit den Großen. Ich kann nicht so schnell laufen, nicht so hoch springen, nicht so weit werfen. Aber ich bin geborgen. Ich werde versorgt. Mir wird geholfen, wenn ich Hilfe suche.
Jesus sagte einmal: „Wer sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ (Matthäus 18,4) Nicht der Starke. Nicht der Erfolgreiche. Nicht der Fromme. Nicht der Bibeltreue. Sondern der Demütige. Der Empfangende. Der Vertrauende. Das ist das Herz des Evangeliums. Nicht Stolz. Nicht Leistung. Sondern Gnade. Und wer sich dieser Gnade öffnet, der wird nicht niedergebeugt – sondern aufgerichtet. Nicht beschämt – sondern beschenkt. Nicht verloren – sondern gefunden. Amen.