Matthäus 5,45: “So erweist ihr euch als Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.”
In Matthäus 5,45 erschließt sich ein tiefes Geheimnis der christlichen Spiritualität: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Mit diesem Bild malt Jesus nicht nur eine göttliche Großzügigkeit, sondern enthüllt auch, was es bedeutet, wahrhaft „Kinder eures Vaters im Himmel“ zu sein. Wenn Jesus Gott „Vater“ nennt, geht es um weit mehr als um einen Schöpfer. Es ist die Sprache der Nähe, der Fürsorge, des tiefen Vertrauens, der Liebe. Vatersein ist Beziehung – eine Liebesgemeinschaft, die sich durch Treue, Geduld und Hingabe auszeichnet. Es ist eine Innigkeit, die das Herz wärmt und den Glauben trägt.
Lieben wie der Vater im Himmel – das ist das Ziel der Nachfolge! Die radikale Forderung Jesu nach Feindesliebe ist nicht einfach ein ethisches Ideal – sie ist der Weg, durch den wir Gott ähnlich werden. Wer den anderen liebt, ungeachtet seiner Taten oder Herkunft, spiegelt etwas vom Wesen Gottes wider. Die Fähigkeit, auch das Unverdiente zu schenken – Licht, Regen, Gnade – ist der Ausdruck göttlicher Liebe. Gott zu entsprechen heißt, durch gelebte Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das göttliche Wesen in der Welt widerzuspiegeln – als ein Kind, das dem Herzen des Vaters ähnlich wird. Gottes Kind zu sein bedeutet nicht bloß, von ihm erschaffen worden zu sein. Es heißt, sich von seiner Liebe formen zu lassen, sein Herzschlag zu werden in einer Welt, die diese Wärme oft vermisst. Die Nachahmung Gottes vollzieht sich nicht in Worten, sondern im Tun – in der Bereitschaft, Licht und Segen auch dort zu bringen, wo Dunkelheit herrscht.
Gottes verborgenes Wirken offenbart sich in der paradoxen Einheit von grenzenloser Gnade und gerechtem Zorn, die in der Schöpfung wie im Herzen des Menschen sichtbar wird – erkennbar nur dem, der im Licht seiner Berufung sieht. Jesus malt ein faszinierendes Bild göttlicher Güte: „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Hier zeigt sich eine entscheidende Eigenart Jesu: Er entdeckt in der einfachen Schöpfungswirklichkeit eine tiefere Offenbarung Gottes. Sonne und Regen werden zu Zeichen einer Liebe, die nicht selektiert, sondern alle umfasst – unabhängig von ihrem moralischen Zustand. Jesus nimmt seine Beispiele nicht aus den Palästen der Mächtigen, sondern aus der Welt des einfachen Menschen. Er deutet den Acker, das Wetter, das Tier – als Ausdruck des Vaters. Doch diese „Schöpfungsschrift“ ist kein offenes Buch für jeden. Nur wer durch Gottes Berufung erleuchtet ist, erkennt in ihr das übernatürliche Wirken, das nicht nur Schönheit, sondern auch Weisung trägt.
Paulus entfaltet in der Spannung zwischen Segen und Gericht eine Offenbarung Gottes, die zeigt, dass der äußere Wohlstand nicht immer Zeichen göttlicher Zustimmung ist, sondern oft Ausdruck seiner geduldigen Gnade – ein Ruf zur Wahrheit, den der Mensch nicht verdrängen soll. Er greift diese Linie auf und vertieft sie in Römer 1,18: “Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten.” Die Schöpfung, einst ein Zeugnis der Gnade, offenbart nun auch den Zorn Gottes – über die, die „die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“. Es ist eine paradoxe Spannung: Gott schenkt äußeren Segen – Sonne, Regen, Gedeihen – auch denen, die ihn verwerfen, die ihn ablehnen und sogar verspotten.
Nicht selten erleben Gläubige, dass der „Acker des Fluches“ mehr trägt als der Acker des Jüngers. Psalm 73,4 beschreibt genau diese Herausforderung: „Sie leiden keine Qualen, sie sind gesund und wohlgenährt.“ Das Gute scheint oft im Schatten zu stehen, während das Gottlose blüht. Diese geistliche Spannung bringt den Beter zur Erkenntnis: Wahres Gutsein liegt nicht im äußeren Segen, sondern in der Nähe zu Gott. Gottes Vorbild ist nicht ein Belohnungssystem. Es ist Ausdruck einer väterlichen Liebe, die Geduld zeigt – selbst gegenüber den Gottlosen. Der Segen soll zur Umkehr führen, nicht zur Selbstverherrlichung. Die Gaben Gottes sind Ruf und Erinnerung: dass der wahre Reichtum jenseits von Fruchtbarkeit und Wohlstand liegt – nämlich in der Beziehung zum Vater, der Sonne und Regen schenkt und zugleich das Herz prüft.
Die Tiefe der Nachfolge besteht darin, auch ohne sichtbaren Lohn standzuhalten – im Vertrauen, dass Gottes Gegenwart gerade im Verborgenen wirkt und der Glaube dort wächst, wo die Augen nichts sehen. Wahre Christusnachfolge beginnt dort, wo die äußeren Maßstäbe versagen. Sie entfaltet sich inmitten der scheinbaren Ungerechtigkeit, in Zeiten des Mangels und der Stille – wenn der Segen nicht offensichtlich ist und die Fragen überwiegen. Gerade dann offenbart sich ein Glaube, der nicht am Ertrag gemessen wird, sondern an der Treue zum Vater. Es ist ein Geheimnis der geistlichen Reife:
Dass Gott gerade dort wächst, wo nichts wächst. Der karge Boden kann zum Ort der tiefsten Begegnung mit dem lebendigen Gott werden. Nicht weil er Frucht trägt, sondern weil er das Herz prüft. Wer dort bleibt, wer nicht flieht, wer Gott nicht nur im Reichtum sucht – der beginnt, Gott selbst zu erkennen.
Psalm 73 zeigt, wie nahe der Zweifel kommt, wenn man das Wohlergehen der Gottlosen betrachtet. Doch der Wendepunkt liegt im Vers 17: „Bis ich in Gottes Heiligtum ging und dort ihr Ende bedachte.“ Dort, in der Begegnung mit der göttlichen Wahrheit, wird das scheinbare Ungleichgewicht als Teil eines größeren Heilsplans verstanden. Nachfolge bedeutet, sich selbst Gott ganz hinzugeben – nicht um zu empfangen, sondern um zu lieben, auch wenn der Weg keine Belohnung verspricht, sondern nur die Gewissheit seiner Nähe. Christus nachfolgen heißt nicht, einen bevorzugten Weg zu gehen, sondern bereit zu sein, auch den verborgenen Segen zu empfangen – jenen, der nicht glänzt, sondern verwandelt. Wer in der Dürre vertraut, empfängt eine Tiefe, die kein Reichtum geben kann.
Die universelle Liebe Gottes lädt den Menschen ein, trotz seiner Fehlbarkeit umzukehren und in die Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater zurückzukehren – getragen von Hoffnung, Geduld und Gnade. Und Jesus offenbart in der Geschichte des reichen Mannes (Lukas 16,19), der „alle Tage herrlich und in Freuden lebte“, eine tiefgründige Wahrheit: Äußeres Wohlergehen ist kein zuverlässiger Maßstab für geistliche Nähe zu Gott. Selbst das Sterben kann den wahren Zustand eines Herzens nicht unmittelbar enthüllen. Der Mensch sieht das Sichtbare – Gott aber sieht das Herz.
Gottes Erbarmen erstreckt sich über die gesamte Schöpfung – nicht nur als Trost für den Einzelnen, sondern als tragende Kraft, die Himmel und Erde in Hoffnung und Geduld umspannt. Denn die bewahrende Liebe Gottes reicht weit über das individuelle Schicksal hinaus. Die gesamte Schöpfung steht unter einer Verheißung, die in 1. Mose 8,22 zum Ausdruck kommt: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Trotz des Wissens um die menschliche Neigung zum Bösen – „denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1. Mose 8,21) – hält Gott die Ordnung der Welt in geduldiger Treue aufrecht. Dieser anhaltende Segen ist keine Gleichgültigkeit, sondern Hoffnung: Hoffnung, dass der Mensch sich besinnen, umkehren und heimkehren möge – zu Gott, dem Vater. Die Gaben der Schöpfung sind nicht nur Versorgung, sondern Ruf zur Beziehung.
Die Berufung zur Nachahmung bedeutet, aus der inneren Führung des Geistes zu leben – als Kinder Gottes, die in ihrem Tun das Herz des Vaters widerspiegeln und seine Liebe erfahrbar machen. Jesu Ruf an seine Nachfolger ist eindeutig und herausfordernd: Wie der Vater großzügig gibt, sollen auch wir geben. Wie Gott barmherzig ist, sollen auch wir Barmherzigkeit leben. Denn Gott ist Liebe – und wer sich seinem Wesen nähert, wird selbst zum Ausdruck dieser Liebe in der Welt. Gnade, Geduld und Vergebung sind keine frommen Optionen, sondern gelebte Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus. Wer dem Mitmenschen Vergebung verweigert, verschließt sein Herz vor dem Wirken des Geistes und verkennt den Ernst der eigenen Erlösung. Wer seinem Nächsten keine Gnade, Geduld und Vergebung gewährt, widerspricht dem Wesen Christi – und zeigt damit, dass er nicht in der wahren Nachfolge Jesu lebt.
Der Weg der Nachfolge führt von bloßer Erkenntnis zu tiefer Erfüllung – einer Bewegung vom „Kennen Gottes“ zum „Durchdrungensein vom Geist“. So sagt Paulus: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Römer 8,14)
Die Kinder Gottes erkennt man nicht an äußeren Ritualen, sondern an der Frucht ihres Lebens: einem Herzen voller Demut, einem Geist der Versöhnung und einem Leben in Hingabe. Amen.