Lukas 15, 1–2: “Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.”
In wenigen Versen offenbart Lukas eine tiefgründige Einsicht in die soziale und geistliche Dynamik des Wirkens Jesu. Bemerkenswert ist, dass „alle“ Zöllner und Sünder, unabhängig von Herkunft oder Status, sich zu ihm hingezogen fühlten. Der Begriff „alle“ steht nicht für Vollständigkeit, sondern für die Vielfalt jener, die sich trotz gesellschaftlicher Stigmatisierung von ihm angenommen wussten. Im jüdischen Kontext galten Zöllner und Sünder als Außenseiter: Zöllner wurden als Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht und Gesetzesbrecher angesehen, Sünder waren schlicht jene, die Gottes Gebote missachteten – nicht im theologischen Sinne wie in Psalm 51, sondern aus gesellschaftlicher Perspektive, geprägt von Ausgrenzung und Selbstverzweiflung. Trotzdem suchten diese Menschen immer wieder Jesu Nähe. In ihm fanden sie eine Annahme und Liebe, wie sie ihnen sonst verwehrt blieb – weder König, Rabbi noch Religionsführer hatten ihnen je diese Offenheit entgegengebracht. Lukas 15,1 offenbart so nicht nur eine soziale Bewegung, sondern auch das Herzstück Jesu: das Wesen eines „Heilands für Sünder“.
In dieser Szene offenbart sich eine stille, aber zutiefst bewegende Überraschung: Die Zöllner und Sünder kamen nicht aus Sensationslust oder Hoffnung auf wundersame Heilung – sie kamen „um ihn zu hören“. Dies allein zeigt bereits ihre innere Bewegung. Ihre Sehnsucht reichte über äußere Bedürfnisse hinaus; sie dürsteten nach Wahrheit, Orientierung und einer lebendigen Beziehung zu Gott. Der Apostel Paulus bringt diese Dynamik in Römer 1,16 auf den Punkt: Das Evangelium ist „eine Kraft Gottes, die selig macht“. Es war nicht bloß eine Botschaft, sondern eine geistliche Energie, die Herzen verwandelte. Die Menschen spürten intuitiv, dass Jesu Worte nicht nur trösteten, sondern auch heilten – nicht vorrangig den Körper, sondern die Seele. Sie kamen, weil sie in seinen Worten ein neues Leben entdeckten, ein Leben, das durch Vergebung, Annahme und Gnade geprägt war. Ihr Kommen war Ausdruck einer tiefen Hoffnung: dass die Tür zum Reich Gottes auch ihnen offenstehen könnte. Diese Szene zeigt damit eindrücklich, wie machtvoll und lebensverändernd das Evangelium sein kann – es erreicht nicht nur die Frommen, sondern gerade jene, die sich nach Sinn und Erneuerung sehnen. Jesu Wort war für sie mehr als Lehre – es war das leise Angebot eines neuen Anfangs.
Die Reaktion der religiösen Elite, insbesondere der Pharisäer und Schriftgelehrten, auf das Wirken Jesu ist von tiefem Unmut und spürbarer Ablehnung geprägt. Lukas 15,2 bringt diese Haltung prägnant zum Ausdruck: „Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: ‚Der da nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.‘“ Der Ausdruck „Der da“ ist mehr als eine bloße Bezeichnung – er offenbart eine herabwürdigende Haltung, die mit Verachtung und Distanz auf Jesu Handeln blickt. Es ist die Sprache derer, die sich selbst als Hüter der religiösen Ordnung begreifen und alles, was diese Ordnung infrage stellt, mit Argwohn betrachten. Besonders auffällig ist der Vorwurf der Gemeinschaft Jesu mit den Sündern. Für die Pharisäer bedeutete Tischgemeinschaft weit mehr als eine gemeinsame Mahlzeit – sie galt als Zeichen tiefster Verbundenheit, Annahme und Gleichwertigkeit. Dass Jesus mit Sündern aß, war für sie ein Skandal, ein Bruch mit der Reinheitsvorstellung und dem religiösen Selbstverständnis ihrer Zeit.
Das Wort „annehmen“ entfaltet in diesem Kontext eine bedeutungsschwere Tiefe: Es meint nicht nur die physische Aufnahme in ein Haus, wie im Gleichnis vom großen Gastmahl (Lukas 14,16ff), sondern die bewusste Einladung in die geistliche Nähe, ja in die Nachfolge. Jesus integriert jene, die als unrein galten, nicht nur äußerlich – er bietet ihnen Teilhabe am Reich Gottes. Seine Annahme ist nicht oberflächlich, sondern existenziell. Es ist ein Akt radikaler Inklusion, der bestehende Grenzen durchbricht und das Herz Gottes sichtbar macht. Die Reaktion der religiösen Führer zeigt, wie revolutionär Jesu Botschaft war – und wie sehr sie bestehende Machtstrukturen und religiöse Vorstellungen herausforderte. Gerade dieser Konflikt bildet die Bühne für die nachfolgenden Gleichnisse vom verlorenen Schaf, der verlorenen Drachme und dem verlorenen Sohn: Sie sind Jesu Antwort auf das Murren derer, die sich selbst für gerecht hielten, und zugleich Einladung an alle, sich von Gottes erbarmender Liebe berühren zu lassen.
Im orientalischen Kontext war das gemeinsame Essen weit mehr als bloße Nahrungsaufnahme – es bedeutete Nähe, Vertrauen und gegenseitige Anerkennung. Wer mit jemandem am Tisch saß, signalisierte Zugehörigkeit und Loyalität; solche Tischgemeinschaften schufen nicht nur soziale Bindungen, sondern öffneten auch Türen für geistliche Beziehungen. Genau dieses tiefe Verständnis von Gemeinschaft macht Jesu Verhalten so radikal und gleichzeitig so heilvoll. Der Messias selbst suchte bewusst die Nähe zu denen, die religiös und gesellschaftlich an den Rand gedrängt wurden. Er aß mit Zöllnern, ließ sich von als unrein geltenden Frauen salben und nahm ihre Ehrerbietung als Lehrer an – ein Verhalten, das im Widerspruch zur Erwartung vieler damaliger religiöser Gruppen stand. Die Pharisäer etwa erwarteten einen Messias, der „die Sünder züchtigt und ein heiliges Volk versammelt“ (vgl. Psalmen Salomos 17,25–26). Auch die Essener und andere jüdische Strömungen pflegten ein exklusives Heiligkeitsideal, das klare Trennlinien zu Sündern zog.
Doch Jesus durchbrach diese Schranken. Seine Tischgemeinschaft war eine stille Offenbarung: Die Einladung galt nicht den Selbstgerechten, sondern den Bedürftigen. Die Aufnahme des Zöllners Levi in den Kreis der Jünger war ein Akt voller Symbolkraft – sie zeigte, dass Umkehr und Annahme möglich sind, unabhängig von sozialem oder moralischem Status.
Jesu Umgang mit Sündern war weder naive Toleranz noch stillschweigende Zustimmung zur Sünde, sondern Ausdruck einer göttlichen Gnade, die zur Erneuerung ruft.
Er sah nicht primär die Verfehlung, sondern das Potenzial zur Umkehr. In dieser Gemeinschaft offenbarte sich das Wesen des Reiches Gottes: Es ist ein Raum der Barmherzigkeit, in dem selbst die Verworfenen einen Platz finden – am Tisch des Herrn.
Die Auslegung von Lukas 15,2 wurde im Laufe der Zeit nicht selten missverstanden oder gar missbraucht. Daher muss mit aller Deutlichkeit festgehalten werden: Jesu Nähe zu Sündern bedeutete keineswegs eine Billigung ihrer Lebensweise oder eine Beteiligung an moralisch fragwürdigem Verhalten. Der Vorwurf, Jesus habe den sittlichen Anstand missachtet, entbehrt jeder Grundlage. Die Heilige Schrift bezeugt klar und übereinstimmend, dass Jesus sündlos war (vgl. Johannes 8,46; 2. Korinther 5,21; Hebräer 4,15) – und gerade in dieser Reinheit lag seine Kraft zur Erneuerung.
Sein Ziel war nie die Anpassung an gesellschaftliche Normen oder die Relativierung göttlicher Maßstäbe. Vielmehr suchte er aus Liebe zu den Verlorenen einen Weg, ihre Herzen zu erreichen. Die Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern war ein bewusstes Zeichen seiner Barmherzigkeit – ein Ausdruck dafür, dass das Heil auch denjenigen offensteht, die im religiösen System keinen Platz mehr fanden. Dabei war Jesu Vorgehen weder beliebig noch taktlos. Vielmehr handelte er mit göttlicher Weisheit: Er verkündigte die Wahrheit in Liebe und rief zur Umkehr, ohne zu verurteilen. In seiner Nähe wurden Menschen nicht in ihren Schatten bestätigt, sondern ins Licht geführt. Seine Gemeinschaft war keine stille Duldung der Sünde, sondern eine Einladung zur Verwandlung. Diese Haltung offenbart das Wesen des Evangeliums: Es ist eine Botschaft der heilenden Gnade für Sünder – aber auch eine Herausforderung zur Umkehr und ein Ruf zur Heiligkeit. Jesus begegnete den Ausgestoßenen nicht mit Herablassung, sondern mit Hoffnung. Und genau darin lag die Provokation für jene, die glaubten, sich das Heil durch eigene Gerechtigkeit verdienen zu können.
Wer im Geist von Lukas 15,2 handeln möchte, ist berufen, dem Vorbild Jesu in Haltung und Tat zu folgen. Es geht nicht um moralischen Hochmut oder ständiges Tadeln, sondern um eine Liebe, die sich aktiv auf den Weg zu den Verlorenen macht. Jesu Vorgehen zeigt:
Die Kraft des Evangeliums entfaltet sich nicht im Rückzug, sondern im offenen, barmherzigen Zugehen auf den Menschen – auch und gerade auf jene, die von der Gesellschaft gemieden oder verachtet werden.
Die Einladung zur Tischgemeinschaft mit Sündern war ein Zeichen göttlicher Nähe. Sie symbolisierte Annahme, Hoffnung und Bereitschaft zur Erneuerung. Auch heute sind Christen aufgerufen, diesen Geist der Einladung weiterzutragen: Nicht durch Anpassung an weltliche Vergnügungen oder oberflächliche Toleranz, wie sie etwa im Trubel des Karnevals zum Ausdruck kommen können, sondern durch ein bewusstes, geistlich geprägtes Dienen. Lukas 15,2 ist keine Legitimation für Ausschweifungen – es ist ein Ruf zur missionarischen Gastfreundschaft. Als geistliche Gastgeber öffnen Christen Räume, in denen Suchende angenommen und zur Wahrheit geführt werden. In liebevoller Begegnung, ohne Überheblichkeit, kann weit mehr bewirkt werden als durch bloße Ermahnung. Wer sich Sündern mit offenen Armen zuwendet, schafft die Voraussetzung für eine echte Herzensveränderung. Es geht um eine Einladung zur Umkehr – nicht in Form eines moralischen Urteils, sondern als Ausdruck des Evangeliums, das rettet, heilt und zur Nachfolge ruft. So zeigt sich: Evangelisation ist kein lauter Ruf von oben herab, sondern ein stilles, beharrliches Werben mit der Liebe Christi – eine Liebe, die Grenzen überwindet und Leben verwandelt.
Lukas 15,1–2 konfrontiert uns als Christen mit einer zentralen Herausforderung und zugleich mit einem tiefen Auftrag: Wie gehen wir mit jenen um, die gesellschaftlich oder religiös als „außerhalb“ gelten? In diesem Punkt erkennen wir eine tiefe Herausforderung, die uns als Christen betrifft. Wir sehen, wie Jesus sich den Ausgegrenzten zuwendet – den Zöllnern, den Sündern, den gesellschaftlich Verstoßenen. Er hört ihnen zu, isst mit ihnen, teilt Gemeinschaft. Das ist nicht bloße Nähe, sondern echte Zugewandtheit, die Herzen öffnet und Leben verändert. Und hier stehen wir heute oft in einem Spannungsfeld: Wir verkünden Umkehr und Buße – wichtige, zentrale Botschaften des Glaubens – doch allzu häufig fehlt die persönliche Einladung, das offene Ohr, das geteilte Leben. Wir predigen, aber wir begegnen kaum. Wir lehren, aber hören selten zu. Und gerade dadurch verlieren wir die Chance, Menschen wirklich zu erreichen.
Wenn wir Jesu Beispiel ernst nehmen, dann sind wir dazu berufen, unsere Türen zu öffnen und unsere Herzen weit zu machen. Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen – wir müssen sie auch leben. Wir sollen einladend sein, nicht distanziert. Wir dürfen nicht erwarten, dass Menschen sich ändern, bevor sie zu uns kommen – vielmehr sollen sie bei uns erleben, dass Veränderung möglich ist.
Im Geist von Lukas 15 handeln heißt: Wir leben das Evangelium durch Nähe, Gastfreundschaft und echte Beziehung. Wir lassen uns berühren von den Fragen und Kämpfen der Menschen und vertrauen darauf, dass Gottes Gnade in der Begegnung wirkt. So schaffen wir Räume, in denen Umkehr nicht gefordert, sondern gefunden wird – weil sie aus Liebe geboren ist. Amen.