“Ich glau­be an Jesus Chri­stus, aber nicht an die Bibel!?”

„Kürz­lich hör­te ich einen evan­ge­li­schen Theo­lo­gen sagen: ‚Got­tes Wort im eigent­li­chen Sin­ne ist nach dem Zeug­nis der Bibel Jesus Chri­stus. Des­halb glau­be ich nicht an das Neue Testa­ment, son­dern ich glau­be an Jesus Chri­stus.‘ Die­se For­mu­lie­rung scheint heu­te vie­ler­orts als theo­lo­gisch und gesell­schaft­lich kor­rekt zu gel­ten. Doch stellt sich mir die Fra­ge: Ist sie auch biblisch kor­rekt? Muss man wirk­lich so dif­fe­ren­zie­ren, um dem bibli­schen Befund gerecht zu wer­den? Oder darf ich nicht eben­so sagen: ‚Ich glau­be an Got­tes Wort‘ – und dabei sowohl Jesus Chri­stus als auch die Hei­li­ge Schrift mei­nen? Denn wenn Pau­lus in Apo­stel­ge­schich­te 24,14 bekennt: ‚Ich glau­be allem, was im Gesetz und in den Pro­phe­ten geschrie­ben steht‘, dann zeigt sich dar­in ein tie­fes Ver­trau­en in die schrift­lich über­lie­fer­te Offen­ba­rung Got­tes. Und auch Jesus selbst spricht in Johan­nes 5,39 davon, dass die Schrift von ihm zeugt: “Ihr forscht doch in den Hei­li­gen Schrif­ten und seid über­zeugt, in ihnen das ewi­ge Leben zu fin­den – und gera­de sie wei­sen auf mich hin.” (Gute Nach­richt Bibel)

Jesus Chri­stus als das fleisch­ge­wor­de­ne Wort (Joh 1,1–14) und die Schrift als das gezeug­te Wort, das von ihm spricht – bei­des gehört untrenn­bar zusam­men. Wer Chri­stus glaubt, wird auch der Schrift glau­ben, und wer der Schrift glaubt, wird zu Chri­stus geführt.

Wer sagt, er glau­be nicht an die Bibel, son­dern an Jesus Chri­stus, kann damit sehr Ver­schie­de­nes mei­nen – von einer tie­fen Chri­stus­zen­triert­heit bis hin zu einer bewuss­ten Abwer­tung der Schrift. Man­che die­ser Aus­sa­gen ste­hen durch­aus im Ein­klang mit der Bibel, ande­re hin­ge­gen wider­spre­chen ihrem Zeug­nis klar. Umge­kehrt kann auch die Aus­sa­ge „Ich glau­be an die Bibel“ pro­ble­ma­tisch sein, wenn sie die Schrift zu einem Selbst­zweck erhebt und Chri­stus als Mit­te aus dem Blick ver­liert. Doch wäh­rend die War­nung vor einem über­höh­ten Bibel­glau­ben heu­te weit ver­brei­tet ist, begeg­net mir die tat­säch­li­che Gefahr einer sol­chen Hal­tung nur sel­ten. Viel häu­fi­ger scheint mir, dass das Schiff der gegen­wär­ti­gen Theo­lo­gie bereits gefähr­lich zur ande­ren Sei­te neigt – dass man vor einer Schlag­sei­te nach Back­bord warnt, wäh­rend es längst nach Steu­er­bord kippt. Es ist eine para­do­xe und irre­füh­ren­de War­nung: Sie mahnt den Maß­lo­sen zur Mäßi­gung, wäh­rend der Maß­vol­le längst hun­gert; sie warnt den Gei­zi­gen vor Ver­schwen­dung, wäh­rend der Ver­schwen­der kaum noch Maß kennt; sie ruft dem Über­ar­bei­te­ten zur Ruhe, wäh­rend der Trä­ge sich längst ein­ge­rich­tet hat. Sol­che War­nun­gen tref­fen nicht die Rea­li­tät, son­dern spie­geln eine Schief­la­ge wider, die selbst zur Gefahr wird.

Betrach­ten wir die ver­schie­de­nen Hal­tun­gen im Ein­zel­nen!

1. War­nung: Buch als Gott

Man­che sehen in der Aus­sa­ge „Ich glau­be an die Bibel“ die Gefahr, dass das Buch selbst – mit Ein­band und Sei­ten – zum Objekt der Ver­eh­rung wird, als wäre es Gott selbst. In die­ser Sicht­wei­se wird die Bibel nicht mehr als Zeug­nis von Got­tes Offen­ba­rung ver­stan­den, son­dern als magi­scher Gegen­stand, dem über­na­tür­li­che Kräf­te inne­woh­nen. Es gibt Berich­te, etwa aus dem rus­sisch-ortho­do­xen Raum, dass Gläu­bi­ge Bibel­ver­se auf Zet­tel schrie­ben und die­se ihren Söh­nen in die Uni­form ein­näh­ten, in der Hoff­nung, sie wür­den vor feind­li­chen Kugeln schüt­zen. In ihrer Zuspit­zung könn­te man sagen: Wer Jere­mia 15,16 liest – „Dein Wort ward mei­ne Spei­se“ – und dar­aus fol­gert, er müs­se sei­ne Bibel buch­stäb­lich essen, hat die geist­li­che Dimen­si­on des Wor­tes Got­tes miss­ver­stan­den.

Die­se Form der Buch­ver­eh­rung ist in ande­ren Reli­gio­nen ver­brei­te­ter. Im Islam etwa gilt der Koran nicht nur inhalt­lich, son­dern auch mate­ri­ell als hei­lig. Die ara­bi­sche Schrift selbst wird als sakral ange­se­hen, und eine Über­set­zung gilt nicht mehr als ech­ter Koran. Vie­le Mus­li­me kön­nen den Koran daher nicht wirk­lich lesen, weil sie des Ara­bi­schen nicht mäch­tig sind – und den­noch ver­eh­ren sie das Buch als sol­ches. Für sie ist es unvor­stell­bar, dass ein Christ sei­ne Bibel auf den Boden legt oder auf einen Stuhl – sol­che Gesten erschei­nen als Miss­ach­tung der Hei­lig­keit. Auch im Juden­tum fin­det sich eine ver­gleich­ba­re Hal­tung gegen­über der Torah: Die Torahrol­le wird in einem eige­nen Schrein auf­be­wahrt, oft in einem beson­ders gestal­te­ten Raum der Syn­ago­ge, der fast wie ein klei­nes Hei­lig­tum wirkt.

Die­se Bei­spie­le zei­gen, wie unter­schied­lich das Ver­hält­nis zum hei­li­gen Text sein kann – und wie wich­tig es ist, zwi­schen der Ver­eh­rung des Inhalts und der Anbe­tung des Gegen­stands zu unter­schei­den. Der christ­li­che Glau­be sieht in der Bibel nicht ein magi­sches Buch, son­dern das leben­di­ge Zeug­nis von Got­tes Reden, das auf Jesus Chri­stus ver­weist – das fleisch­ge­wor­de­ne Wort.

Auch wenn Bibeln mit Gold­schnitt und kunst­vol­ler Prä­gung auf dem Ein­band in vie­len Kir­chen ehr­fürch­tig auf dem Altar lie­gen, hat sich im christ­li­chen Glau­ben nie eine buch­zen­trier­te Ver­eh­rung eta­bliert, wie sie in ande­ren Reli­gio­nen zu beob­ach­ten ist. Die Vor­stel­lung, Chri­sten könn­ten die Bibel anstel­le von Jesus Chri­stus ver­eh­ren oder sie gar zu einem Ersatz­gott machen, ent­spricht weder der geleb­ten Pra­xis noch der theo­lo­gi­schen Über­zeu­gung der Kir­che. Viel­mehr war und ist es ein grund­le­gen­der Kon­sens, dass die Hei­li­ge Schrift Got­tes Wort ist – nicht in einem magi­schen oder mate­ri­el­len Sinn, son­dern als geist­ge­wirk­tes Zeug­nis sei­ner Offen­ba­rung.

In ihr begeg­nen wir dem leben­di­gen Chri­stus, der selbst das fleisch­ge­wor­de­ne Wort ist, wie es im Johan­nes­evan­ge­li­um heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Johan­nes 1,1). Wer die Hei­li­ge Schrift liest, begeg­net nicht einem Buch, son­dern dem leben­di­gen Gott, der durch sein Wort spricht, wirkt und ver­wan­delt.

Wenn im christ­li­chen Kon­text von der „Hei­li­gen Schrift“ gespro­chen wird, ist damit nicht das phy­si­sche Buch gemeint – nicht Papier, Ein­band oder Gold­schnitt –, son­dern der geist­li­che Gehalt, der in den Wor­ten der Bibel leben­dig wird. Die Hei­lig­keit bezieht sich auf den Inhalt, weil die­ser den Men­schen zu Jesus Chri­stus führt, dem fleisch­ge­wor­de­nen Wort Got­tes. Der Glau­be eines Chri­sten rich­tet sich nicht auf das Buch als Objekt, son­dern auf das Zeug­nis, das es von Got­tes Wir­ken und Wesen gibt. Auch die Bibel selbst spricht von den „Hei­li­gen Schrif­ten“ stets in Bezug auf ihren geist­li­chen Gehalt, nicht auf ihre mate­ri­el­le Form.

Ein ein­drück­li­ches Bei­spiel für die Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on einer sol­chen Hei­lig­keit fin­det sich in 1. Samu­el 4,1–11. Dort wird die Bun­des­la­de – in der sich die von Gott beschrie­be­nen Stein­ta­feln befin­den – von den Israe­li­ten in den Krieg getra­gen, in der Hoff­nung, dass ihre blo­ße Anwe­sen­heit den Sieg bringt. Doch die Lade wird geraubt, und Isra­el erlei­det eine Nie­der­la­ge. Die­se Erzäh­lung kann als Kri­tik an einer magi­schen Vor­stel­lung ver­stan­den wer­den, die meint, der Segen Got­tes sei an das phy­si­sche Vor­han­den­sein hei­li­ger Gegen­stän­de gebun­den – statt an das Hören, Glau­ben und Tun sei­nes Wor­tes. Die Hei­li­ge Schrift ist hei­lig, weil sie Got­tes Stim­me trägt, nicht weil sie als Buch eine über­na­tür­li­che Kraft besä­ße. Wer sie liest mit offe­nem Her­zen, begeg­net dem leben­di­gen Gott – nicht einem magi­schen Arte­fakt.

2. War­nung: Bibel ohne Jesus

Es gibt berech­tig­te Stim­men, die davor war­nen, dass der Satz „Ich glau­be an die Bibel“ miss­ver­stan­den wer­den kann. Wer ihn unre­flek­tiert ver­wen­det, läuft Gefahr, jeder ein­zel­nen Aus­sa­ge der Schrift die­sel­be Auto­ri­tät bei­zu­mes­sen – ohne die inne­re Struk­tur, die heils­ge­schicht­li­che Ent­wick­lung und die zen­tra­le Bot­schaft der Bibel zu berück­sich­ti­gen. So könn­te etwa das Sab­bat­ge­bot oder die alt­te­sta­ment­li­chen Rein­heits­vor­schrif­ten als eben­so ver­bind­lich ange­se­hen wer­den wie der Ruf des Neu­en Testa­ments, an Jesus Chri­stus zu glau­ben. Doch die blo­ße Beru­fung auf den Wort­laut – „Es steht doch in der Bibel“ – reicht nicht aus, um eine christ­li­che Pra­xis zu begrün­den. Denn nicht alles, was in der Bibel steht, ist für Chri­sten in glei­cher Wei­se nor­ma­tiv.

Die­se Span­nung ist kein moder­nes Phä­no­men, son­dern bereits im Neu­en Testa­ment sicht­bar. Pau­lus etwa bekennt sich zu allem, was im Gesetz und in den Pro­phe­ten geschrie­ben steht – und doch pre­digt er nicht die Beschnei­dung, die Ein­hal­tung kul­ti­scher Fei­er­ta­ge oder die Opfer­pra­xis des alten Bun­des. Statt­des­sen ver­kün­det er Chri­stus, weil er erkannt hat, dass das Gesetz und die Pro­phe­ten letzt­lich auf ihn hin­wei­sen. In Jesus Chri­stus sieht Pau­lus die Erfül­lung jener Schrif­ten, nicht ihre blo­ße Wie­der­ho­lung. Die Bibel ist also nicht ein gleich­för­mi­ges Regel­werk, son­dern ein viel­stim­mi­ges Zeug­nis, das auf das eine Wort Got­tes in Chri­stus zuläuft. Wer das erkennt, liest die Schrift nicht flach, son­dern im Licht ihrer Mit­te.

Das ange­spro­che­ne Pro­blem ist kei­nes­wegs theo­re­tisch, son­dern betrifft gera­de jene, die die Bibel mit beson­de­rem Ernst lesen und ihr Leben danach aus­rich­ten wol­len. Es ist daher ent­schei­dend, wie man einem ver­brei­te­ten Miss­ver­ständ­nis begeg­net: der Vor­stel­lung, man müs­se sich zwi­schen dem Glau­ben an Chri­stus und dem Ver­trau­en in die Bibel ent­schei­den. Wer sagt, man sol­le „an Chri­stus glau­ben und nicht an die Bibel“, läuft Gefahr, eine künst­li­che Tren­nung zu erzeu­gen, die dem Wesen der Schrift und dem Zeug­nis des Glau­bens nicht gerecht wird. Denn Chri­stus und die Bibel ste­hen nicht in Kon­kur­renz zuein­an­der – viel­mehr ist die Bibel das Zeug­nis von Chri­stus, und Chri­stus selbst ist das leben­di­ge Wort, das die Schrift erfüllt und aus­legt.

Weder Jesus noch Pau­lus haben die Auto­ri­tät der Hei­li­gen Schrift rela­ti­viert, um Chri­stus her­vor­zu­he­ben. Im Gegen­teil: Sie haben die Schrift als Got­tes Wort ernst genom­men und zugleich gezeigt, dass ihre tief­ste Wahr­heit in Chri­stus zur Erfül­lung kommt. Pau­lus etwa pre­digt Chri­stus aus dem Gesetz und den Pro­phe­ten, weil er dar­in die Ver­hei­ßung und Vor­be­rei­tung auf das Evan­ge­li­um erkennt. Auch Jesus selbst hat die Schrift nicht ver­wor­fen, son­dern sie aus­ge­legt und in sei­nem Leben und Wir­ken zur Voll­endung gebracht. Des­halb ist es nicht ange­mes­sen, einen Gegen­satz zwi­schen Bibel und Chri­stus zu kon­stru­ie­ren.

Jesus selbst hat sich bewusst unter die Auto­ri­tät der Hei­li­gen Schrift gestellt. In Johan­nes 5,39 bezeugt er: „Sie ist es, die von mir zeugt.“ Damit macht er deut­lich, dass die Hei­li­ge Schrift nicht nur ein histo­ri­sches Doku­ment ist, son­dern ein leben­di­ges Zeug­nis, das auf ihn hin­weist. Obwohl er als Sohn Got­tes direkt vom Vater gekom­men ist und ihn allein kennt, hät­te er durch­aus die Mög­lich­keit gehabt, sich über die Schrift zu stel­len oder sie bei­sei­te­zu­schie­ben. Doch genau das tat er nicht. Statt­des­sen bestä­tig­te und erfüll­te er ihre Auto­ri­tät, indem er sie im Sin­ne Got­tes aus­leg­te.

Die Bibel, die zu sei­ner Zeit aus­schließ­lich das Alte Testa­ment umfass­te, wur­de von Jesus nicht rela­ti­viert, son­dern in ihrer tief­sten Bedeu­tung erschlos­sen. Er las sie nicht als star­res Gesetz­buch, son­dern als pro­phe­ti­sches Zeug­nis, das Got­tes Heils­plan offen­bart. In sei­nem Leben, sei­nem Wir­ken und sei­nem Opfer brach­te er zur Voll­endung, was die Schrift ver­hei­ßen hat­te. Damit zeigt Jesus, dass wah­re Auto­ri­tät nicht dar­in liegt, sich über die Schrift zu erhe­ben, son­dern sie im Licht Got­tes zu ver­ste­hen und zu leben. Sei­ne Hal­tung zur Schrift ist ein Vor­bild für alle, die glau­ben: nicht ein distan­zier­ter Umgang, son­dern ein tie­fes Ver­trau­en in das Wort, das von ihm spricht.

Auch Pau­lus hat in sei­ner Ver­kün­di­gung kei­nen Gegen­satz zwi­schen Chri­stus und der Hei­li­gen Schrift kon­stru­iert. Als er schreibt: „Einen ande­ren Grund kann nie­mand legen als den, der gelegt ist, wel­cher ist Jesus Chri­stus“ (1.Korinther 3,11), meint er damit nicht, dass die Schrift als Fun­da­ment des Glau­bens abge­löst sei. Im Gegen­teil: Er betont aus­drück­lich, dass das Evan­ge­li­um, das er ver­kün­det, „nach der Schrift“ ist (1.Korinther 15,3). Für Pau­lus ist Chri­stus nicht der Ersatz der Schrift, son­dern ihre Erfül­lung und Aus­le­gung. Die Schrift bleibt das tra­gen­de Fun­da­ment, weil sie auf Chri­stus hin­weist und in ihm ihre tief­ste Wahr­heit offen­bart.

Auch die ande­ren Apo­stel begeg­nen der Schrift mit gro­ßer Ehr­furcht. In ihren Brie­fen beru­fen sie sich immer wie­der auf die alt­te­sta­ment­li­chen Tex­te, um ihre Bot­schaft zu begrün­den. Obwohl sie Jesus selbst gehört und erlebt haben, stellt kei­ner von ihnen die Wor­te Jesu über die Schrift in dem Sin­ne, dass frü­he­re Offen­ba­run­gen dadurch ent­wer­tet wür­den. Es gibt kei­nen Hin­weis auf eine Rang­ord­nung, wie sie heu­te manch­mal behaup­tet wird – etwa, dass Jesu Wor­te mehr Auto­ri­tät hät­ten als das übri­ge Wort Got­tes im Gesetz und in den Pro­phe­ten. Viel­mehr geht es durch­weg um das rech­te Ver­ständ­nis der Schrift. Und dafür ist Chri­stus der Schlüs­sel: Er ist das Licht, in dem die Schrift gele­sen und ver­stan­den wer­den muss. Wer die Bibel im Geist des Evan­ge­li­ums aus­legt, erkennt ihre Ein­heit und Tie­fe – nicht als Samm­lung iso­lier­ter Gebo­te, son­dern als zusam­men­hän­gen­des Zeug­nis von Got­tes Heils­werk in der Geschich­te.

Jesus ehren, indem man die Bibel abwer­tet?

Der Satz „Ich glau­be nicht an die Bibel, ich glau­be an Jesus Chri­stus“ wird häu­fig gebraucht, um die Auto­ri­tät der Hei­li­gen Schrift schein­bar zugun­sten Jesu zu rela­ti­vie­ren. Doch bei nähe­rer Betrach­tung zeigt sich, dass die­ser Gegen­satz künst­lich ist und fata­le theo­lo­gi­sche Kon­se­quen­zen haben kann. Zwar gibt es unter­schied­li­che Nuan­cen in der Ver­wen­dung die­ses Sat­zes, doch das zugrun­de lie­gen­de Prin­zip bleibt oft das­sel­be: Das Evan­ge­li­um von Jesus Chri­stus wird gegen die Schrift­ge­mäß­heit aus­ge­spielt. Dabei wird behaup­tet, dass die Ver­ge­bung, die Jesus schenkt, über einer ethi­schen Ori­en­tie­rung an bibli­schen Gebo­ten ste­he. Eine biblisch begrün­de­te Ethik gilt dann als gesetz­lich, als etwas, das Jesus angeb­lich abge­lehnt habe. Man­che gehen sogar so weit zu sagen, man müs­se mit dem Evan­ge­li­um gegen die Bibel argu­men­tie­ren.

Das bedeu­tet kon­kret, dass man­che ver­su­chen, ethi­sche Aus­sa­gen der Bibel – ins­be­son­de­re aus dem Alten Testa­ment oder den pau­li­ni­schen Brie­fen – mit dem Hin­weis auf Jesu Lie­be und Ver­ge­bung zu rela­ti­vie­ren oder sogar auf­zu­he­ben. Sie stel­len das Evan­ge­li­um als eine Art „Gegen­ge­wicht“ zur bibli­schen Ethik dar, als ob die Bot­schaft von Gna­de und Annah­me auto­ma­tisch jede mora­li­sche Ori­en­tie­rung über­flüs­sig mache.

Ein häu­fig genann­tes Bei­spiel ist der Umgang mit Sexu­al­ethik, ins­be­son­de­re in Bezug auf Ehe­bruch oder gleich­ge­schlecht­li­che Bezie­hun­gen. Man­che sagen etwa: „Jesus wür­de heu­te nie­man­den ver­ur­tei­len, der aus Lie­be eine neue Bezie­hung ein­geht, auch wenn es for­mal Ehe­bruch ist.“ Oder: „Jesus hat nie­man­den wegen sei­ner Sexua­li­tät aus­ge­schlos­sen – des­halb ist es unchrist­lich, gleich­ge­schlecht­li­che Part­ner­schaf­ten als Sün­de zu bezeich­nen.“

In sol­chen Aus­sa­gen wird die bibli­sche Ethik – etwa das Gebot der Treue in der Ehe oder die Aus­sa­gen zur sexu­el­len Pra­xis – als „gesetz­lich“ abge­tan. Statt­des­sen wird behaup­tet, dass die Lie­be und Ver­ge­bung Jesu die­se Gebo­te über­bie­ten oder sogar erset­zen. Das Evan­ge­li­um wird dann nicht mehr als Erfül­lung der Schrift ver­stan­den, son­dern als Kor­rek­tiv gegen sie.

Was dabei über­se­hen wird:

  • Jesus hat die Gebo­te nicht auf­ge­ho­ben, son­dern sie ver­tieft (vgl. Mat­thä­us 5,17–20). Er spricht etwa vom Ehe­bruch nicht nur als äuße­re Tat, son­dern auch als inne­re Hal­tung.
  • Sei­ne Ver­ge­bung setzt Umkehr vor­aus – nicht die Umdeu­tung von Sün­de in Tugend.
  • Die Apo­stel, obwohl sie das Evan­ge­li­um pre­di­gen, beru­fen sich immer wie­der auf die Schrift, um ethi­sche Ori­en­tie­rung zu geben (z. B. Römer 13,8–14; 1.Korinther 6,9–11).

Die Gefahr: Wenn man das Evan­ge­li­um gegen die Bibel aus­spielt, ver­liert man den Maß­stab, an dem Umkehr und Ver­ge­bung über­haupt erst Sinn bekom­men. Die Lie­be Jesu ist nicht belie­big – sie ist hei­lig, hei­lend und her­aus­for­dernd. Sie hebt nicht Got­tes Gebo­te auf, son­dern führt in ihre Tie­fe und Wahr­heit. Dabei wird über­se­hen, dass Jesus zwar gekom­men ist, um zu ret­ten und nicht zu rich­ten (Lukas 19,10; Johan­nes 3,17), dass sei­ne Ret­tung aber stets mit Umkehr ver­bun­den ist.

Die Bibel und das Evan­ge­li­um ste­hen nicht im Wider­spruch zuein­an­der. Viel­mehr ist das Evan­ge­li­um der Schlüs­sel zum rech­ten Ver­ständ­nis der Schrift. Wer Jesus Chri­stus wirk­lich ehren will, wird auch sei­ne Hal­tung zur Schrift ernst neh­men – und die war geprägt von tie­fem Respekt und der Über­zeu­gung, dass sie Got­tes Wort ist, das auf ihn ver­weist.

Es ist bedenk­lich, dass zuneh­mend auch kon­ser­va­tiv-evan­ge­li­ka­le Leh­rer den Satz „Ich glau­be nicht an die Bibel, ich glau­be an Jesus Chri­stus“ auf­grei­fen und ver­tre­ten. Die­se For­mu­lie­rung mag gut gemeint sein, doch sie ist weder biblisch fun­diert noch geeig­net, um Her­aus­for­de­run­gen im Umgang mit der Hei­li­gen Schrift zu lösen. Viel­mehr führt sie zu einer pro­ble­ma­ti­schen Tren­nung zwi­schen Chri­stus und dem bibli­schen Zeug­nis, das ihn bezeugt. Wer meint, mit die­sem Satz die Auto­ri­tät der Schrift rela­ti­vie­ren zu kön­nen, um Chri­stus beson­ders zu ehren, ver­kennt, dass Jesus selbst die Schrift bestä­tigt und sich ihr unter­stellt hat. Die Bibel ist nicht ein belie­bi­ges Medi­um, das man hin­ter sich las­sen kann, sobald man Jesus gefun­den hat – sie ist das Wort, durch das Chri­stus erkannt und ver­kün­digt wird. Ein Glau­be, der sich von der Hei­li­gen Schrift löst, ver­liert sei­nen Maß­stab und sei­ne Ver­an­ke­rung. Des­halb ist es ein Irr­weg, die­sen Satz als theo­lo­gi­sches Instru­ment zu ver­wen­den, um Span­nun­gen oder Miss­ver­ständ­nis­se im Bibel­ver­ständ­nis zu ent­schär­fen. Er ver­schärft sie viel­mehr, indem er die Ein­heit von Wort und Fleisch, von Schrift und Chri­stus, auf­löst.

Die Fra­ge, ob es biblisch ist zu sagen: „Ich glau­be an die Bibel“, lässt sich nicht pau­schal mit Ja oder Nein beant­wor­ten. Viel­mehr kommt es dar­auf an, was mit die­ser Aus­sa­ge gemeint ist. Im posi­ti­ven Sinn kann man durch­aus sagen „Ich glau­be an die Bibel“, wenn damit gemeint ist, dass man der Wahr­heit aller Aus­sa­gen der Hei­li­gen Schrift ver­traut, sie nicht anzwei­felt oder ihnen wider­spricht. Wer glaubt, dass alles, was geschrie­ben steht, nach Got­tes Wil­len über­lie­fert wur­de und somit Got­tes Wort an uns ist, bekennt sich zu einem tie­fen Ver­trau­en in die gött­li­che Auto­ri­tät der Schrift.

Pro­ble­ma­tisch wäre die Aus­sa­ge jedoch, wenn sie so ver­stan­den wür­de, als sei die Bibel selbst eine gött­li­che Instanz, eine Art eigen­stän­di­ge Gott­heit. Der drei­ei­ne Gott spricht durch die Schrift, und sie hat eine gewis­se Per­son­haf­tig­keit, inso­fern sie „redet“ und leben­dig wirkt. Doch ihre Auto­ri­tät ist stets abge­lei­tet – sie ist Got­tes Wort, nicht Gott selbst. Die Bibel ist Mitt­le­rin, nicht Ursprung. Des­halb wäre es eine Ver­ir­rung, die Schrift selbst zu ver­gött­li­chen.

Aller­dings ist eine sol­che Fehl­hal­tung in der west­li­chen Chri­sten­heit kaum ver­brei­tet. Die Sor­ge, jemand kön­ne die Bibel als Gott ver­eh­ren, erscheint über­zo­gen und wenig rea­li­täts­nah. Daher ist es irre­füh­rend, wenn immer wie­der vor einem angeb­li­chen „Bibel­glau­ben“ gewarnt wird, der Chri­stus ver­drän­ge. In der Regel geht es den Gläu­bi­gen dar­um, Got­tes Wort ernst zu neh­men – und das ist nicht nur biblisch, son­dern auch geist­lich gesund.

Das eigent­li­che Pro­blem liegt heu­te oft auf der ande­ren Sei­te: Immer mehr Chri­sten begin­nen, ein­deu­ti­ge Aus­sa­gen der Bibel infra­ge zu stel­len. Sie las­sen sich von Stim­men lei­ten, die die Auto­ri­tät der Hei­li­gen Schrift bewusst rela­ti­vie­ren – und das nicht sel­ten unter dem Deck­man­tel schein­bar from­mer oder ver­söhn­li­cher For­mu­lie­run­gen. Dabei wird der Ein­druck erweckt, als sei es geist­lich reif oder beson­ders barm­her­zig, wenn man sich von kla­ren bibli­schen Maß­stä­ben löst. Doch gera­de die­se Hal­tung unter­gräbt das Ver­trau­en in Got­tes Wort und öff­net Tür und Tor für belie­bi­ge Aus­le­gun­gen, die sich nicht mehr am Text, son­dern an per­sön­li­chen Emp­fin­dun­gen oder gesell­schaft­li­chen Trends ori­en­tie­ren. Die Fol­ge ist eine Ver­wäs­se­rung des Evan­ge­li­ums, bei der nicht mehr Chri­stus das Maß ist, son­dern das, was Men­schen sich von ihm wün­schen. Wer Got­tes Wort ernst nimmt, wird sich die­ser Ent­wick­lung nicht leicht­fer­tig anschlie­ßen, son­dern mit geist­li­cher Klar­heit und Lie­be für die Wahr­heit ein­tre­ten. Amen.