Lukas 15, 3–7: “Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.”
In Lukas 15,3–4 beginnt Jesus mit einem Gleichnis, das zutiefst bewegend und zugleich herausfordernd ist. Er stellt eine rhetorische Frage: „Welcher Mensch unter euch…?“ – damit bindet er seine Zuhörer direkt ein. Es ist, als würde er sagen: „Das würdet ihr doch auch tun, oder nicht?“ Die Suche nach dem verlorenen Schaf wird zur Metapher für Gottes unermüdliche Liebe und Fürsorge für den Einzelnen.
Was sagt dieses Gleichnis aus? Auch wenn neunundneunzig in Sicherheit sind, richtet sich der Blick nicht auf die Menge, sondern auf das eine, das fehlt. Das Gleichnis macht deutlich: Gott sieht nicht nur Gruppen – er sieht das Herz jedes Einzelnen. Sein Handeln ist nicht statistisch, sondern zutiefst persönlich. Jedes Leben zählt, denn Gottes Liebe kennt keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen. Der gute Hirte verlässt die schützende Gemeinschaft, um das verlorene Schaf zu suchen – nicht aus Pflicht, sondern aus tiefem Mitgefühl. In Gottes Augen hat niemand weniger Bedeutung, niemand ist austauschbar. Die neunundneunzig bleiben zurück, nicht weil sie unwichtig wären, sondern weil der eine Verlorene in diesem Moment alle Aufmerksamkeit verdient.
Der eine ist der Sünder – derjenige, der sich entfernt hat, verirrt, den Weg verloren hat. Doch das Gleichnis zeigt: Gottes Reaktion auf die Entfernung ist nicht Abwendung, sondern aktive Hinwendung. Er wartet nicht distanziert darauf, dass der Mensch den Weg zurückfindet – Gott wird selbst zum Suchenden. Der eine ist der Sünder – nicht verurteilt, sondern vermisst. Gott wartet nicht passiv am Rand, sondern verlässt die Sicherheit des Gewohnten, um durch die Öde, durch Ungewissheit und Gefahr zu gehen, um den Verlorenen zu finden. Seine Liebe kennt kein Zögern, keine Bedingungen. Wo andere vielleicht sagen: ‘Er entschied sich für einen Pfad abseits der Wahrheit’, sagt Gott: ‘Ich werde ihn suchen – bis ich ihn finde.’
Wir sind herausgefordert, nicht nur die „neunundneunzig“ zu betreuen – also die Frommen, die in der Gemeinschaft verbleiben –, sondern mit offenen Augen und Herzen nach denen Ausschau zu halten, die verloren gegangen sind. Es ist ein Ruf zur aktiven Nächstenliebe, zum Hingehen, zum Wahrnehmen. Wir dürfen niemanden aufgeben, denn Gott tut es auch nicht. Seine Suche ist geduldig, ausdauernd und von tiefer Gnade getragen. So sollen auch wir als seine Nachfolger unterwegs sein: nicht nur mit dem Blick für die Masse, sondern mit dem Herzen für den Einzelnen.
In Lukas 15,5 lesen wir weiter: “Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude.”
Diese einfache, doch kraftvolle Zeile öffnet den Raum für ein tiefes Verständnis der göttlichen Herzenshaltung. Sie beschreibt den Moment, in dem der gute Hirte – Bild für Gott selbst – das verlorene Schaf gefunden hat. Aber er führt es nicht nur zurück. Nein, er nimmt es auf seine Schultern, als wolle er jede Last, jeden Schritt selbst tragen. Und dabei ist er nicht genervt, nicht vorwurfsvoll – sondern voller Freude.
Wer von uns war nicht schon einmal das verlorene Schaf? Verirrt in Entscheidungen, gefangen in Sorgen, getrennt durch Schuld oder Zweifel? Jesus spricht in diesem Gleichnis nicht von einem makellosen Tier, sondern von einem, das sich verirrt hat. Das Schaf steht für den Menschen, der sich von Gott entfernt hat. Und doch – dieser eine ist nicht vergessen. Gott sieht, sucht und findet.
Was tut der Hirte, nachdem er das verlorene Schaf gefunden hat? Er legt es sich auf die Schultern – voller Freude. Keine Vorwürfe. Keine Strafe. Keine mürrischen Blicke. Sondern eine Geste der Wiederherstellung. Der Hirte übernimmt die Last – vielleicht ist das Schaf verletzt, erschöpft, kraftlos. Es muss nicht zurücklaufen. Es wird getragen. Hier zeigt sich die unfassbare Gnade Gottes: Er trägt, wo wir nicht mehr können. Er trägt unsere Last – und tut es mit Freude. Für Gott ist die Rückkehr eines jeden Menschen Grund zum Feiern. Nicht, weil wir perfekt zurückkommen, sondern weil wir überhaupt zurückkommen. In einer Welt, die oft Leistung, Kontrolle und Eigenverantwortung betont, erinnert uns Lukas 15,5 an etwas radikal anderes: dass unser Wert, unsere Zugehörigkeit und unser Heil nicht auf unseren Fähigkeiten beruhen, sondern auf Gottes treuer Liebe.
Du bist nie zu weit weg, dass Gott dich nicht finden könnte. Auch wenn du dich innerlich entfernt hast – sei es durch Schuld, Zweifel oder Enttäuschung – bleibt Gott nicht stehen. Er durchdringt Dunkelheit und Distanz. Es gibt keinen Ort, keine Situation, keinen Zustand, der Ihn hindert, dich zu erreichen. Sein Blick sucht dich, sein Herz erinnert sich an dich – auch wenn du dich selbst verloren glaubst. Diese Wahrheit gibt Halt in Phasen der Orientierungslosigkeit. Sie sagt: Du bist nicht vergessen. Und du wirst nicht fallen, ohne dass jemand dich aufzufangen versucht.
Du bist nie zu schwach, dass Gott dich nicht tragen würde. Wenn du keine Kraft mehr hast, nicht einmal zum Gebet – trägt dich Gott. Wie der Hirte das Schaf auf die Schultern hebt, so übernimmt Gott das, was du selbst nicht mehr stemmen kannst. Und er tut es nicht widerwillig, sondern mit einem Lächeln im Herzen. Seine Stärke ist nicht nur Kraft – sie ist Barmherzigkeit. Im Glauben bedeutet „getragen werden“ nicht Schwäche, sondern Hingabe. Es ist der Moment, in dem Gnade greifbar wird.
Deine Rückkehr ist kein Makel, sondern ein Triumph der Gnade. Die Rückkehr zu Gott, nach Umwegen oder Fehltritten, ist keine Peinlichkeit – sondern Grund zur Freude. Der Himmel feiert das Wiederfinden. Nicht die Abweichung wird festgehalten, sondern die Heimkehr. Der Weg zurück ist nicht mit Scham gepflastert, sondern mit Gnade. Das Evangelium ist keine Geschichte der makellosen, sondern der verwandelten Menschen. Wer zurückkehrt, kommt nicht als Zweitklassiger – sondern als Geliebter. Im Glauben geht es weniger darum, immer richtig zu liegen – sondern darum, auf Gottes Stimme zu hören, selbst wenn wir verirrt sind. Jeder neue Anfang ist bei Gott willkommen. Es gibt keine zu späte Umkehr.
Und weiter lesen wir in Lukas 15, 6: “Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.”
Was für ein kraftvolles Bild – nicht nur vom Finden, sondern vom Feiern. Dieses Gleichnis Jesu offenbart nicht nur Gottes Suchbewegung, sondern auch seine Reaktion: Freude – echte, mitteilbare Freude. Nachdem der Hirte das eine verlorene Schaf gefunden hat, endet seine Reise nicht mit einem stillen Seufzen der Erleichterung. Nein – er kehrt heim, hebt die Stimme, lädt andere ein: „Freut euch mit mir!“ Das zeigt: Gott freut sich nicht leise. Er lädt zur Freude ein. Die Suche galt dem Einzelnen, doch die Freude über das Wiederfinden erfüllt die Herzen vieler. Lass dich berühren von dem, was Gottes Herz bewegt, und werde ein Nachbar, der mitfühlt, mitträgt und mitfreut, wenn Verlorene gefunden werden. Sei ein Freund, dessen Arme offen sind und dessen Worte nicht nach Erklärungen verlangen, sondern Geborgenheit schenken – ein Freund, der Heimkehr nicht bewertet, sondern bejaht. „Freut euch mit mir!“
Wie reagierst du, wenn etwas verloren Geglaubtes plötzlich zurückkehrt? Ein Mensch, der sich von der Gemeinschaft entfernt hat, ein Kind, das sich dem Glauben öffnet, ein Freund, der Heilung erlebt? Jesu Gleichnis fordert uns auf: Freut euch mit! Nicht mit Skepsis, nicht mit Zurückhaltung – sondern mit einem offenen Herzen. Diese Freude über das Gefundene ist nicht Selbstverliebtheit, sondern Beziehungsliebe. Gott zeigt uns, dass Erlösung nie ein Solo ist – sie ist ein Chor. Ein Fest mit offenen Türen. In Lukas 15,6 spüren wir die Emotion Gottes – nicht fern, nicht abstrakt. Sondern wie ein Vater, der ein Kind nach langer Nacht in die Arme schließt. Und Jesus sagt: “So ist mein Vater. So ist unser Gott.” So soll auch unsere Gemeinde sein – ein Ort, wo das Finden gefeiert wird. Freut euch mit mir – denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Und in Lukas 15, 7 heißt es: “Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.”
Die Worte Jesu offenbaren nicht nur das barmherzige Herz Gottes, sondern stellen auch unsere eigene Haltung auf den Prüfstand: Wie oft wiegen wir uns in einer trügerischen Sicherheit, weil unser Lebensstil und unser frommes Auftreten äußerlich stimmen? Doch während wir mit dem Finger auf andere zeigen, übersehen wir, dass dieser Finger zugleich auf uns zurückweist – auf unsere innere Bedürftigkeit, unser eigenes Zerbrechen, unsere eigene Notwendigkeit zur Umkehr. Die größte Gefahr liegt nicht im offensichtlichen Irrweg, sondern in der subtilen Überzeugung, selbst keinen Weg zurück mehr nötig zu haben. Wenn wir uns von der Not der anderen abgrenzen, verlieren wir den Blick für unsere eigene Erlösungsbedürftigkeit. Denn im Reich Gottes zählt nicht die Makellosigkeit der Biografie, sondern die Bereitschaft zur Hinwendung und zur aufrichtigen Umkehr.
Viele verstehen Umkehr als einen einmaligen Akt – ein Augenblick der Entscheidung, der den Übergang vom Verlorensein zur Rettung markiert. Und ja, diese Entscheidung ist heilig und bedeutsam. Aber das Evangelium ruft uns nicht zu einer einmaligen Rückwendung, sondern zu einem beständigen Lebensstil der inneren Ausrichtung. Umkehr ist kein abgeschlossener Vorgang, sondern ein bleibender Weg. Sie ist nicht nur das Tor zur Rettung, sondern der fortlaufende Rhythmus eines Herzens, das Gottes Nähe sucht. Viele meinen: ‚Ich habe mich einmal bekehrt, ich bin nun gerettet‘ – und ruhen sich darin aus. Doch das Gleichnis vom verlorenen Schaf erinnert uns daran, dass wir auch als Gerettete immer wieder in die Irre gehen können. Noch sind wir Sünder – und gerade deshalb bleibt die Umkehr ein täglicher Ruf, eine geistliche Bewegung der Hingabe. Sie bedeutet: sich neu auf Christus auszurichten, Stolz zu beugen, Gnade zu empfangen, die eigene Bedürftigkeit zu erkennen – nicht mit Schuldgefühlen, sondern mit dem Vertrauen, dass der gute Hirte auch heute noch sucht, trägt und freut. Umkehr heißt: Ich bin bereit, mich verändern zu lassen – immer wieder, immer tiefer.
Indem wir die Tendenz erkennen, uns auf eigene Gerechtigkeit zu stützen, eröffnet sich uns ein tieferes Verständnis für die überströmende Freude Gottes über die Rückkehr eines einzigen Sünders. Es ist nicht die Vielzahl der Gerechten, die im Himmel Jubel entfacht, sondern die stille, aufrichtige Demut eines Menschen, der seine Unvollkommenheit anerkennt. In der von Jesus gezeichneten Szene wird die himmlische Freude nicht jenen geschenkt, die sich mit ihrer Tugend schmücken, sondern denjenigen, die in der Nüchternheit ihrer Einsicht begreifen, wie sehr sie auf Gnade angewiesen sind. Diese Erkenntnis verlangt mehr als bloßes Eingeständnis – sie ruft zur ehrlichen Selbstprüfung und zur Bereitschaft, die Masken der Selbstgerechtigkeit fallen zu lassen. Erst wenn das Herz transparent wird für seine wahren Beweggründe, beginnt der Prozess der inneren Umkehr, der Gottes Herz zutiefst berührt.
Denn Gott ehrt nicht den Stolz der Perfekten, sondern das kindliche Vertrauen derer, die sich ihm in ihrer Bedürftigkeit hingeben.
Das Gleichnis vom verlorenen Schaf öffnet ein Fenster zum Herzen Gottes: Während die neunundneunzig Gerechten in der trügerischen Ruhe ihrer Selbstzufriedenheit verharren, löst die Umkehr des einen Sünders im Himmel ein Fest der Freude aus. Dieser dramatische Kontrast ruft uns zur Selbstprüfung – nicht mit Strenge, sondern mit dem sanften Flüstern der Wahrheit. Leben wir in einer geistlichen Komfortzone, in der wir unsere eigene Bedürftigkeit übersehen und dadurch blind werden für die Not unserer Mitmenschen? Oder lassen wir uns berühren von der verletzlichen Ehrfurcht vor der Gnade, die uns nicht nur zur Buße bewegt, sondern zur tiefen, mitfühlenden Freude über jedes gerettete Herz? In dieser Spannung liegt ein heiliger Ruf zur Erneuerung: eine Einladung, die Enge selbstgerechter Gedanken zu verlassen und unser Herz neu mit der Barmherzigkeit Gottes zu verbinden. Denn wahre Geistlichkeit lebt nicht aus der Stolz der Tugend, sondern aus dem Staunen über eine Liebe, die nicht zählt, sondern sucht.
Die himmlische Freude über die Umkehr eines einzelnen Sünders offenbart eine Wirklichkeit, die unsere menschlichen Kategorien sprengt. Gott rechnet nicht nach unseren Maßstäben von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit – sein Herz schlägt nicht für das makellose Leben, sondern für das offene, bereuende Herz. Amen.