Die Bibel zu kennen bedeutet weit mehr, als einzelne Verse auswendig zu lernen. Sie ist ein literarisches, historisches und geistliches Meisterwerk, das aus 66 Büchern besteht, geschrieben über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren, von über 40 Autoren in verschiedenen Kulturen und Sprachen. Wer sich ihr nähert, begegnet einer faszinierenden Vielfalt: poetische Psalmen, prophetische Visionen, historische Berichte, moralische Weisungen, Gleichnisse und Briefe. Doch trotz dieser Vielfalt zieht sich ein roter Faden durch das gesamte Werk – die Geschichte Gottes mit den Menschen. Von der Schöpfung in Genesis („Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – Genesis 1,1) bis zur Offenbarung des neuen Himmels und der neuen Erde („Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ – Offenbarung 21,4) entfaltet sich ein Drama, das von Fall und Erlösung, von Gericht und Gnade, von Sehnsucht und Erfüllung erzählt.
Viele Menschen kennen einzelne Bibelverse – etwa „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23,1) oder „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Markus 12,31) – doch die wahre Tiefe der Bibel erschließt sich erst im Zusammenhang. Wer sie wirklich kennt, erkennt die Spannungen zwischen Gesetz und Gnade („Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ – Römer 3,20; „Aus Gnade seid ihr gerettet durch den Glauben“ – Epheser 2,8), zwischen menschlicher Schwäche und göttlicher Treue („Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu“ – 2. Timotheus 2,13). Er sieht, wie die Geschichten des Alten Testaments auf das Kommen Jesu hindeuten („Doch er war durchbohrt um unserer Vergehen willen,“ – Jesaja 53,5), wie die Propheten seine Geburt, seinen Tod und seine Auferstehung vorwegnehmen.
Jesus selbst war tief verwurzelt in der Heiligen Schrift. Er zitierte sie, lebte nach ihr, erfüllte sie. Als er in der Wüste versucht wurde, antwortete er dem Versucher mit Worten aus dem Buch Deuteronomium: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht“ (Matthäus 4,4 / 5. Mose 8,3). Als er am Kreuz hing, sprach er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46), ein Zitat aus Psalm 22,2. Für ihn war die Schrift nicht bloß ein religiöses Dokument, sondern lebendiges Wort Gottes („Der Himmel und die Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ – Matthäus 24,35). Wer also Jesus kennen will, muss auch die Bibel kennen – nicht nur intellektuell, sondern mit dem Herzen. Denn die Bibel ist nicht nur ein Buch, das man liest. Sie ist ein Buch, das einen liest. Sie stellt Fragen („Wo bist du?“ – Genesis 3,9), sie konfrontiert („Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und doch Schaden nimmt an seiner Seele?“ – Matthäus 16,26), sie tröstet („Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid“ – Matthäus 11,28), sie fordert heraus („Seid heilig, denn ich bin heilig“ – 1. Petrus 1,16). Und sie lädt ein, sich selbst in ihrer Geschichte wiederzufinden – als Mensch, der sucht, glaubt, zweifelt und hofft.
Wer Jesus wirklich kennen will, muss auch die Bibel kennen. Denn Jesus ist nicht losgelöst von der Heiligen Schrift – er ist ihr Zentrum, ihre Erfüllung, ihr lebendiges Wort. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Johannes 1,1). Die Bibel ist nicht nur ein Buch über Gott – sie ist Gottes Offenbarung an uns. Sie ist das Fundament des Glaubens, das Licht auf unserem Weg: “Eine Leuchte für meinen Fuß ist dein Wort, ein Licht für meinen Pfad” (Psalm 119,105) und das Schwert des Geistes: “Nehmt auch den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist Gottes Wort” (Epheser 6,17).
Doch in unserer Zeit erleben wir eine besorgniserregende Entwicklung: Immer mehr Christen – auch in etablierten Kirchen – behandeln die Bibel wie ein Relikt aus vergangenen Tagen. Sie wird relativiert, hinterfragt, ignoriert oder gar bewusst beiseitegeschoben. Man spricht von „zeitgemäßer Theologie“, von „neuen Lesarten“, von „spiritueller Offenheit“. Doch was bleibt, wenn das Wort Gottes nicht mehr geglaubt wird?
Es ist eine gefährliche Lauheit, die sich breitmacht – eine geistliche Müdigkeit, die sich mit einem oberflächlichen Glauben zufriedengibt. Jesus warnt eindringlich davor: „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. Ach, dass du kalt oder heiß wärst! Weil du aber lau bist […] werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“ (Offenbarung 3,15–16). Das ist keine sanfte Kritik – das ist eine ernste Mahnung.
Lauwarme Christen sind solche, die sich zwar noch zum Glauben bekennen, aber das Feuer verloren haben. Sie beten selten, lesen kaum in der Bibel, leben angepasst an die Welt und haben ihre geistliche Wachsamkeit aufgegeben. Sie sagen vielleicht: „Ich glaube an Jesus“, aber sie kennen seine Worte nicht. Sie sagen: „Ich bin Christ“, aber sie leben nicht aus der Kraft des Evangeliums.
Besonders schmerzlich ist es, wenn selbst in Teilen der evangelischen Kirche die Autorität der Bibel infrage gestellt wird. Wenn zentrale Aussagen über Sünde, Erlösung, Gericht und Gnade verwässert oder umgedeutet werden. Wenn man lieber dem Zeitgeist folgt als dem Heiligen Geist. Doch Paulus mahnt: „Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen werden […] und sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zuwenden“ (2. Timotheus 4,3–4). Diese Zeit ist nicht erst im Kommen – sie ist längst da. Und sie fordert uns heraus, klar Stellung zu beziehen.
Die Bibel ist nicht optional. Sie ist nicht ein Angebot unter vielen. Sie ist Gottes Wort – „nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2. Timotheus 3,16). Wer sie ignoriert, ignoriert Gottes Stimme. Wer sie relativiert, relativiert die Wahrheit. Und wer sie ersetzt, ersetzt Christus selbst. Deshalb braucht es heute mehr denn je Christen, die sich nicht schämen, zur Heiligen Schrift zu stehen. Die sie lesen, lieben, leben. Die sich nicht von der Welt formen lassen, sondern durch das Wort Gottes verwandelt werden: “Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung des Sinnes, dass ihr prüft, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene” (Römer 12,2). Die bereit sind, auch gegen Widerstand zu bezeugen: „Ich glaube der Bibel – ganz und gar.“
Die Gemeinde Jesu braucht Erneuerung – aber keine Anpassung an den Zeitgeist, sondern eine Rückkehr zur Quelle. Eine Rückkehr zur Heiligen Schrift. Eine Rückkehr zu Jesus Christus. Denn nur wer in seinem Wort bleibt, bleibt auch in ihm: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaft meine Jünger“ (Johannes 8,31). Es ist Zeit, aufzuwachen. Zeit, das Buch wieder aufzuschlagen. Zeit, das Feuer neu zu entfachen. Denn Gottes Wort ist lebendig und kräftig – und es wartet darauf, wieder gehört zu werden.
Viele Menschen kennen die Bibel – sie haben sie studiert, analysiert, auswendig gelernt. Sie können Verse zitieren, Zusammenhänge erklären, theologische Konzepte entfalten. Und doch bleibt eine erschütternde Wahrheit bestehen: Man kann die ganze Bibel kennen und dennoch Jesus nicht kennen. Denn biblisches Wissen allein rettet nicht. Es ist möglich, mit dem Kopf voller Schrift und dem Herzen fern von Christus zu leben. Jesus selbst hat diese Realität scharf angesprochen: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir zeugen. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben“ (Johannes 5,39–40).
Das ist eine ernste Mahnung. Die Bibel ist kein Selbstzweck. Sie ist kein religiöses Lexikon, aus dem man sich beliebig das herausnehmen kann, was einem gefällt, sondern ein lebendiger Wegweiser zu einer Person – zu Jesus Christus. Wer die Heilige Schrift liest, ohne sich von ihr zum Sohn Gottes führen zu lassen, bleibt in der Theorie stecken. Es ist wie ein Reiseführer, den man auswendig kennt, aber nie das Land betritt. Die Pharisäer zur Zeit Jesu waren Meister der Schrift. Sie kannten das Gesetz, die Propheten, die Psalmen. Und doch standen sie dem Messias gegenüber – und erkannten ihn nicht. „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir“ (Matthäus 15,8).
Die entscheidende Frage ist nicht: Kennst du die Bibel? Sondern: Kennst du Jesus? Und noch wichtiger: Kennt er dich? Denn Jesus sagt in einer der erschütterndsten Passagen des Neuen Testaments: „Viele werden zu mir sagen an jenem Tag: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt […]? Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!“ (Matthäus 7,22–23). Das ist keine Rede an Atheisten oder Heiden – das ist eine Warnung an religiöse Menschen, die äußerlich alles richtig gemacht haben, aber innerlich nie wirklich mit Christus verbunden waren. Dieser Vers richtet sich ebenfalls an uns Christen.
Jesus zu kennen bedeutet mehr als über ihn Bescheid zu wissen. Es bedeutet, ihm zu begegnen, ihm zu vertrauen, ihm nachzufolgen. Es bedeutet, sein Wort nicht nur zu lesen, sondern es zu leben. „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbaren“ (Johannes 14,21). Es bedeutet, sich von ihm verändern zu lassen – im Denken, im Fühlen, im Handeln. Es bedeutet, ihn nicht nur als Retter zu bekennen, sondern als Herrn zu ehren. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Johannes 10,27). Das ist echte Beziehung – nicht bloß religiöse Information.
Die Bibel ist unersetzlich. Sie ist Gottes Wort, sie ist Wahrheit, sie ist geistliche Nahrung. Aber sie erfüllt ihren Zweck nur dann, wenn sie uns zu Jesus führt. Wenn sie unser Herz öffnet, unser Leben durchdringt, unsere Beziehung zu ihm vertieft. Deshalb ist es möglich, die Bibel zu kennen – und doch verloren zu sein. Und es ist möglich, mit einem einfachen, kindlichen Glauben an Jesus zu leben – und von ihm erkannt zu werden. Die Heilige Schrift ist der Wegweiser. Christus ist das Ziel. Amen.